Unser poli­ti­sches Modell wankt. Es ver­säumt, der Bevöl­ke­rung eine Per­spek­ti­ve für ein kom­ple­xes und dyna­mi­sches 21. Jahr­hun­dert zu prä­sen­tie­ren. Wie wir his­to­ri­sche Umbruch­pha­sen bewäl­ti­gen kön­nen und wel­ches Rüst­zeug wir dafür brauchen.

Von Albrecht von Müller

Die deut­sche Poli­tik weist ein seit vie­len Jah­ren stän­dig zuneh­men­des Defi­zit an Mut und an der Kom­pe­tenz zu visio­nä­rer Poli­tik­ge­stal­tung auf. Gemeint sind damit nicht wol­ki­ge „Visio­nen“, von denen Hel­mut Schmid zurecht sag­te, dass wer von ihnen heim­ge­sucht wer­de, am bes­ten einen Arzt auf­su­chen soll­te. Gemeint sind durch­dach­te, d.h. eben­so belast­ba­re wie eben auch „visio­när“ ange­leg­te Ant­wor­ten auf die gro­ßen, stra­te­gi­schen Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Epoche.

Visio­nen in die­sem Sin­ne sind unver­zicht­bar, wenn es dar­um geht, die Her­aus­for­de­run­gen einer his­to­ri­schen Umbruchs­pha­se zu bewäl­ti­gen. Nur belast­ba­re Visio­nen ermög­li­chen es, hete­ro­ge­ne Kräf­te und Dyna­mi­ken in der erfor­der­li­chen Wei­se zu bün­deln und zu fokus­sie­ren. Belast­ba­re Visio­nen sind der Eis­bre­cher für makro­sko­pi­sche Umgestaltungen.

Zugleich sind sie aber auch nur eine Kom­po­nen­te in einem neu­en, der­zeit noch nicht prak­ti­zier­ten, aber erfor­der­lich gewor­de­nen Modell poli­ti­schen Han­delns, das im Fol­gen­den in sei­nen theo­re­ti­schen Grund­la­gen wie auch hin­sicht­lich sei­ner prak­ti­schen Umset­zungs­mög­lich­kei­ten kurz skiz­ziert wer­den soll.

Der Hin­ter­grund

Die modu­la­re Struk­tur der moder­nen Wis­sen­schaft und Tech­nik führt zu einer Selbst­be­schleu­ni­gung des zivi­li­sa­to­ri­schen Fort­schritts. Spe­zi­ell in Kom­bi­na­ti­on mit den Pro­zes­sen der Glo­ba­li­sie­rung und der Digi­ta­li­sie­rung resul­tiert dies in einem „Tsu­na­mi der Ver­än­de­run­gen“ bei gleich­zei­ti­ger „Explo­si­on der Kom­ple­xi­tät“, wie sie die Welt in der Tat noch nicht gese­hen hat. Sowohl in der Poli­tik als auch in der Wirt­schaft sind Ent­schei­dungs­trä­ger dadurch vor qua­li­ta­tiv neu­ar­ti­ge Her­aus­for­de­run­gen gestellt und Her­an­ge­hens­wei­sen, die noch bis vor weni­gen Jah­ren eini­ger­ma­ßen erfolg­reich waren, erwei­sen sich als völ­lig ver­al­tet und zum Schei­tern verurteilt.

Die Her­aus­for­de­rung

Sehr ver­kürzt könn­te man das jetzt erfor­der­li­che Hand­lungs­mo­dell als „sur­fing struc­tu­ral chan­ge“ cha­rak­te­ri­sie­ren, denn der struk­tu­rel­le Wan­del, ja des­sen umbruch­ar­ti­ge Zuspit­zung, ist zum Nor­mal­fall gewor­den. Her­kömm­li­cher­wei­se reagie­ren sozia­le Sys­te­me auf die Zunah­me der Kom­ple­xi­tät ihrer Umwelt mit funk­tio­na­ler Aus­dif­fe­ren­zie­rung. Genau dies aber, die zuneh­men­de Unter­glie­de­rung der eige­nen Orga­ni­sa­ti­on, wird jetzt zur töd­li­chen Fal­le. Gleich­zei­tig muss der zuneh­men­den Kom­ple­xi­tät der Umwelt Rech­nung getra­gen wer­den. Nur dür­fen sich die zusätz­lich erfor­der­li­chen Sach­kom­pe­ten­zen eben nicht mehr in einer wei­te­ren Frag­men­tie­rung und Ver­lang­sa­mung der insti­tu­tio­nel­len Denk- und Ent­schei­dungs­pro­zes­se niederschlagen.

Wenn man bei immer kom­ple­xe­ren Sys­te­men nur auf ein­zel­ne Sub­sys­te­me schaut und dann dort nach Lösun­gen sucht, kol­la­biert der Hand­lungs­spiel­raum. Hoch­kom­ple­xe Sys­te­me erfor­dern inte­grier­te Lösungs­an­sät­ze, bei denen die Ein­grif­fe in unter­schied­li­che Sub­sys­te­me sich wech­sel­sei­tig unter­stüt­zen – und ins­ge­samt wie­der ein funk­ti­ons­fä­hi­ges Gan­zes ergeben.

Der neue Lösungsansatz

In der Phi­lo­so­phie unter­schei­det man zwi­schen Ver­stand und Ver­nunft. Der Ver­stand kann dabei als die Fähig­keit auf­ge­fasst wer­den, zu immer prä­zi­se­ren ana­ly­ti­schen Unter­schei­dun­gen vor­zu­drin­gen. Dies ist eine sehr mäch­ti­ge und nütz­li­che Grund­form mensch­li­chen Den­kens. Für sich allei­ne genom­men führt die­ser Denk­mo­dus jedoch nie­mals wie­der zu einem sinn­vol­len Bild des Ganzen.

Mit einer schö­nen For­mu­lie­rung des Phy­si­kers und Phi­lo­so­phen Carl-Fried­rich von Weiz­sä­cker kann man Ver­nunft als die Fähig­keit ver­ste­hen, „ein Gan­zes als Gan­zes“ wahr­zu­neh­men und zu durch­den­ken. Betrach­tet man sowohl unse­re heu­ti­gen Denk­ge­wohn­hei­ten wie auch das Port­fo­lio unse­rer Metho­den, so ist eine sehr erfreu­li­che Ent­wick­lung unse­rer ana­ly­tisch-ratio­mor­phen Fähig­kei­ten fest­zu­stel­len. Gleich­zei­tig muss man aber lei­der so etwas wie einen „Kol­laps der Ver­nunft“ konstatieren.

Vie­le Akteu­re han­deln gemäß aus­ge­klü­gelts­ter Model­le der Maxi­mie­rung ihrer kurz­fris­ti­gen Vor­tei­le – zugleich aber maxi­mal unver­nünf­tig, sogar im Hin­blick auf ihre eige­nen mit­tel- und lang­fris­ti­gen Inter­es­sen. Wenn Ver­nunft die Wahr­neh­mung eines Gan­zen als Gan­zes, also eine syn­op­ti­sche kogni­ti­ve Reprä­sen­ta­ti­on erfor­dert, dann wird sie mit zuneh­men­der Kom­ple­xi­tät der Sach­ver­hal­te natür­lich immer schwie­ri­ger. Zugleich ist unser Metho­den­port­fo­lio hin­sicht­lich der typi­schen kogni­ti­ven Leis­tun­gen von Ver­nunft bis­lang nahe­zu völ­lig leer gewesen.

Dies hat sich erst durch das neue, an der Schnitt­stel­le von Natur- und Human­wis­sen­schaf­ten ange­sie­del­te For­schungs­ge­biet „Cognostics“ zu ver­än­dern begon­nen. Dort geht es dar­um, in einem hoch­gra­dig inter­dis­zi­pli­nä­ren Ansatz bes­ser zu ver­ste­hen, wie das mensch­li­che Gehirn Kom­ple­xi­tät bewäl­tigt, sowie Metho­den und Werk­zeu­ge zu ent­wi­ckeln, die es dabei wirk­sam unter­stüt­zen kön­nen. Ein ganz ent­schei­den­des The­ma ist dabei auch die Ope­ra­tio­na­li­sie­rung und Unter­stüt­zung des Denk­mo­dus der Vernunft.

Im Lich­te der Ergeb­nis­se die­ser For­schungs­ar­bei­ten las­sen sich sie­ben Grund­kom­po­nen­ten eines neu­en Hand­lungs­pa­ra­dig­mas für den Umgang mit hoch­kom­ple­xen Sys­te­men und per­ma­nen­tem Struk­tur­wan­del iden­ti­fi­zie­ren. Belast­ba­re Visio­nen sind dabei nur eine die­ser sie­ben metho­do­lo­gi­schen Inno­va­tio­nen, die unmit­tel­bar zusam­men­wir­ken und inein­an­der­grei­fen müs­sen, damit sich ins­ge­samt ein neu­es Hand­lungs­pa­ra­dig­ma ergibt, das die Bewäl­ti­gung der zen­tra­len Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Epo­che ermöglicht.

1) Ver­nunft im Sin­ne der Wahr­neh­mung des Gan­zen als Ganzes

Ratio­na­li­tät ist nicht das Glei­che wie Ver­nunft. Ver­nünf­ti­ge Ein­sich­ten ste­hen zwar nie­mals im Gegen­satz zu ratio­na­len Erkennt­nis­sen, aber sie gehen weit dar­über hin­aus. Cha­rak­te­ris­tisch für Ver­nunft ist die Wahr­neh­mung der Gesamt­kon­stel­la­ti­on. Das Defi­ni­ti­ons­merk­mal einer Kon­stel­la­ti­on ist, dass ihre ein­zel­nen Kom­po­nen­ten erst wech­sel­sei­tig ihre vol­le Bedeu­tung ent­fal­ten. (Wie z.B. die Sym­pto­me eines Pati­en­ten, wenn ein guter Arzt sich ein Bild von ihm macht.) Gera­de auf­grund die­ses „mutu­al seman­tic unfol­ding“ sind ver­nunft­för­mi­ge Ein­sich­ten nicht for­ma­li­sier­bar und nicht in abs­trac­to anti­zi­pier­bar. Das Gan­ze als Gan­zes wahr­zu­neh­men erfor­dert, die gesam­te Kon­stel­la­ti­on auf sich wir­ken zu las­sen, denn nur in die­ser Grund­hal­tung der Acht­sam­keit kön­nen wir „das lei­se Zwie­ge­spräch“ der Rela­ta und damit die wech­sel­sei­ti­ge Ent­fal­tung ihrer Bedeu­tung wahr­neh­men. Vor­aus­set­zung die­ser acht­sa­men Wahr­neh­mung der Gesamt­kon­stel­la­ti­on ist jedoch eine syn­op­ti­sche kogni­ti­ve Reprä­sen­ta­ti­on des Gesamt­zu­sam­men­han­ges. Genau die­se wird jedoch, wie schon erwähnt, bei zuneh­men­der Kom­ple­xi­tät der Sach­ver­hal­te, immer schwieriger.

2) Vor­ran­gi­ge Berück­sich­ti­gung des lang- und mit­tel­fris­ti­gen Zeithorizonts

Nahe­zu alle Ent­schei­dungs­pro­zes­se – egal ob in Wirt­schaft oder Poli­tik – sind heu­te durch eine dra­ma­ti­sche Über­re­prä­sen­ta­ti­on kurz­fris­ti­ger und die ent­spre­chen­de Unter­re­prä­sen­ta­ti­on mit­tel- und lang­fris­ti­ger Inter­es­sen geprägt. Wäh­rend z.B. die chi­ne­si­sche Poli­tik durch ein Den­ken in Jahr­zehn­ten gekenn­zeich­net ist, beschränkt sich das Han­deln west­li­cher Poli­ti­ker oft auf medi­en- und umfra­ge­ge­trie­be­nes Herumgehampel.

Demo­kra­tien tun sich mit lang­fris­tig ange­leg­ten poli­ti­schen Stra­te­gien viel schwe­rer als auto­ri­tä­re Regime – aber gera­de des­halb müs­sen Demo­kra­tien die­se Fähig­keit ent­wi­ckeln, um nicht lang­fris­tig ins Hin­ter­tref­fen zu gera­ten. In vie­len Fäl­len ist die heu­ti­ge poli­ti­sche Kul­tur sogar nicht nur durch Kurz­sich­tig­keit, son­dern sogar durch ein Phä­no­men gekenn­zeich­net, das man als „struk­tu­rel­le Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit“ cha­rak­te­ri­sie­ren muss. Der neue Ber­li­ner Flug­ha­fen sei hier nur als weit­hin sicht­ba­res Bei­spiel genannt, das inzwi­schen sogar das inter­na­tio­na­le Anse­hen der Bun­des­re­pu­blik in Mit­lei­den­schaft zu zie­hen beginnt.

Auch einem Teil der Medi­en kommt auf­grund ihrer kurz­fris­ti­gen Sen­sa­ti­ons­gier hier eine Teil­schuld zu – weil sie lang­fris­tig durch­dach­te Poli­tik­kon­zep­te weder ein­for­dern noch, so sie denn ein­mal ansatz­wei­se ent­wi­ckelt wer­den, ange­mes­sen zu wür­di­gen wis­sen. Es geht hier um eine sehr ernst­zu­neh­men­de Gefähr­dung unse­rer Zivi­li­sa­ti­on. Selbst die Gehirn­for­schung zeigt, dass die Empa­thie mit uns selbst in der mit­tel- und lang­fris­ti­gen Zukunft eine aus­ge­präg­te Schwach­stel­le der Kogni­ti­on des heu­ti­gen „homo sapi­ens“ ist.

Indem der wis­sen­schaft­lich-tech­ni­sche Fort­schritt die Men­ge der Kon­se­quen­zen unse­res Han­delns – auch in zeit­li­cher Hin­sicht – immer mehr aus­wei­tet, kom­men wir um ein Dazu­ler­nen und um die Unter­stüt­zung unse­rer ange­bo­re­nen Fähig­kei­ten nicht her­um. Wir brau­chen eine neue Kul­tur poli­ti­schen Den­kens, in der die ein­sei­ti­ge Fokus­sie­rung auf den kurz­fris­ti­gen Zeit­ho­ri­zont als sol­che erkannt, benannt und sys­te­ma­tisch dele­gi­ti­miert wird.

3) Belast­ba­re Visio­nen: ‘Ein Bein fest am Boden, eines fest in den Wolken‘

Im unmit­tel­ba­ren Zusam­men­hang damit steht die Über­win­dung des habi­tu­el­len Visi­ons­de­fi­zits, dass deut­sche Poli­tik in den letz­ten Jahr­zehn­ten zuneh­mend kenn­zeich­net. Die Bewäl­ti­gung gro­ßer Trans­for­ma­tio­nen erfor­dert in kom­ple­xen sozia­len Sys­te­men, dass vie­le Men­schen mit höchst unter­schied­li­chen Dis­po­si­tio­nen und Inter­es­sen sich hin­ter die­ser Auf­ga­be zusam­men­fin­den. Mög­lich wird dies durch eine Visi­on, die über alle Unter­schie­de hin­weg eine Fas­zi­na­ti­on aus­übt und so eine gemein­sa­me Kraft­an­stren­gung ermöglicht.

Genau die­ser dop­pel­te Brü­cken­schlag zwi­schen unter­schied­li­chen Men­schen einer­seits und zwi­schen dem Sta­tus quo und einem erstre­bens­wer­ten, aber nur schwer zu errei­chen­den Ziel ande­rer­seits ist das Wesen einer Visi­on. Um die­sen Effekt zu errei­chen, darf der Visio­när nicht als Traum­tän­zer wahr­ge­nom­men wer­den. Er muss gleich­sam mit einem Bein fest am Boden ste­hen. Zugleich müs­sen er oder sie mit dem ande­ren Bein fest in den Wol­ken ste­hen, denn nur dann gelingt es ihnen, auch all die ande­ren zu einem muti­gen Schritt bzw. einer gro­ßen Kraft­an­stren­gung zu motivieren.

Die fried­li­che Trans­for­ma­ti­on Süd­afri­kas durch Nel­son Man­de­la bie­tet zumin­dest in ihrer Anfangs­pha­se, als „Madi­ba“ noch selbst die Geschi­cke des Lan­des gestal­te­te, ein her­vor­ra­gen­des Bei­spiel für eine erfolg­rei­che Visi­on in dem hier beschrie­be­nen Sinne.

Belast­ba­re Visio­nen sind bei wei­tem jedoch nicht alles, was zur Bewäl­ti­gung einer gro­ßen Trans­for­ma­ti­on erfor­der­lich ist, aber ohne sie kommt der erfor­der­li­che, von einer gro­ßen Mehr­heit mit­ge­tra­ge­ne Zusam­men­schluss der Kräf­te nicht zustan­de. Kom­ple­men­tär zu einer ver­nünf­ti­gen Wahr­neh­mung des Gesamt­zu­sam­men­han­ges und einer belast­ba­ren Visi­on aber sind her­aus­ra­gen­de Umset­zungs­fä­hig­kei­ten erfor­der­lich, die in den nächs­ten drei Punk­ten beschrie­ben wer­den sollen.

4) Die Suche nach dem archi­me­di­schen Gestal­tungs­punkt eines Problems

Kom­ple­xe sozia­le Sys­te­me sind im Regel­fall – zumin­dest teil­wei­se – selbst­or­ga­ni­sie­rend. Dies bedeu­tet, dass es inter­ne Dyna­mi­ken gibt, die der Selbst­steue­rung die­nen. Will man der­ar­ti­ge Sys­te­me umge­stal­ten, so ist es wich­tig, die­se inter­nen Rege­lungs­dy­na­mi­ken zu ver­ste­hen und soweit mög­lich zu nut­zen. Oft­mals ist es jedoch schwie­rig, sich bis zu die­sen archi­me­di­schen Gestal­tungs­punk­ten „vor­zu­den­ken“. Gera­de bei kom­ple­xen Sys­te­men sind sie häu­fig tief im Inne­ren eines Gestrüpps von Struk­tu­ren und Dyna­mi­ken ver­bor­gen. Fin­det man sie jedoch, so kann man von dort aus oft die Gestalt und das Ver­hal­ten des gesam­ten Sys­tems mit sehr ein­fa­chen Maß­nah­men ein­schnei­dend und nach­hal­tig ver­än­dern. Auch dazu zwei Bei­spie­le zur Veranschaulichung:

Häu­fig wird die gro­ße Insta­bi­li­tät des inter­na­tio­na­len Finanz­sys­tems beklagt. Bei einem Über­gang zu dem Prin­zip der „upsi­de equals down­si­de par­ti­ci­pa­ti­on“ wären alle Kapi­tal­an­la­gen ver­mit­teln­den Insti­tu­tio­nen per Gesetz dazu gezwun­gen, dass den Boni im Fal­le einer posi­ti­ven Ver­mö­gens­ent­wick­lung ana­lo­ge Mali im Fal­le von Ver­lus­ten gegen­über­ste­hen. Die heu­ti­ge Flut gehe­bel­ter Pro­duk­te geht auf einen grund­le­gen­den Inzen­ti­vie­rungs­feh­ler durch den Gesetz­ge­ber zurück. Wer an der Upsi­de par­ti­zi­piert, zugleich jedoch von der Down­si­de ent­kop­pelt ist, pro­fi­tiert davon, wenn er sei­ne Kun­den in stark gehe­bel­te Pro­duk­te jagt. Wenn hin­ge­gen das neue Prin­zip gilt, ver­die­nen auch kapi­tal­ver­mit­teln­de Instan­zen dann am bes­ten, wenn sie für ihre Kun­den wirk­lich sinn­vol­le Inves­ti­ti­ons­mög­lich­kei­ten, z.B. inno­va­ti­ve und nach­hal­tig wach­sen­de Unter­neh­men, finden.

Ein zwei­tes Bei­spiel betrifft die vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt ange­mahn­te Neu­ge­stal­tung der Berech­nungs­grund­la­ge für die Grund­steu­er. Die Kom­mu­nen lamen­tie­ren, dass dies einen rie­si­gen Ver­wal­tungs­auf­wand mit sich bräch­te und in sei­ner Umset­zung zumin­dest ein Jahr­zehnt in Anspruch neh­men wür­de. Das ist völ­li­ger Hum­bug und nur Fol­ge unzu­rei­chen­den Nach­den­kens. Jeder Immo­bi­li­en­ei­gen­tü­mer könn­te dazu ver­pflich­tet wer­den, z.B. alle zwei Jah­re den aktu­el­len Wert sei­ner Immo­bi­lie selbst fest­zu­le­gen. Auto­ma­tisch ist mit die­ser Fest­le­gung jedoch ein Ange­bot an die Kom­mu­ne ver­bun­den, das betref­fen­de Objekt zu dem genann­ten Preis plus 15% zu kau­fen. Bei halb­wegs rea­lis­ti­schen Bewer­tun­gen besteht kei­ner­lei Gefahr, dass die Kom­mu­ne deut­lich über Markt­prei­sen kauft. Wer aber sei­ne Mil­lio­nen-Vil­la für ein paar hun­dert­tau­send Euro durch­schmug­geln will, läuft ein erheb­li­ches Risi­ko. Es ent­steht also – ver­fah­ren­s­im­ma­nent und völ­lig ver­wal­tungs­frei – ein sehr wirk­sa­mer Anreiz zu nor­men­kon­for­mem Verhalten.

Dies sind nur zwei klei­ne Bei­spie­le dafür, was mit dem Begriff „archi­me­di­scher Gestal­tungs­punkt“ gemeint ist und wie sehr es sich lohnt, bei der Umge­stal­tung kom­ple­xer sozia­ler Sys­te­me nach der­ar­ti­gen Punk­ten zu suchen und dann genau dort mit den eige­nen Maß­nah­men anzusetzen.

5) Inte­grier­te Poli­tik­kon­zep­te mit Ein­grif­fen in meh­re­re Einzelbereiche

Bei kom­ple­xen Sys­te­men mit stark wech­sel­wir­ken­den Sub­sys­te­men kol­la­biert, wie schon erwähnt, der Hand­lungs­spiel­raum, wenn man nur Ver­än­de­run­gen bezo­gen auf ein ein­zi­ges Sub­sys­tem ins Auge fasst. Erwei­tert wird der Hand­lungs­spiel­raum erst dadurch wie­der, dass man Ein­grif­fe in unter­schied­li­chen Sub­sys­te­men so auf­ein­an­der abstimmt, dass sie sich wech­sel­sei­tig ergän­zen – und somit ins­ge­samt wie­der zu einem funk­ti­ons­fä­hi­gen Gan­zen führen.

Hand­werk­lich erfor­dern der­ar­ti­ge „inte­grier­te Hand­lungs­kon­zep­te“ jedoch ein grund­le­gen­des Umden­ken, weg vom Silo-Den­ken und hin zu metho­do­lo­gisch wesent­lich anspruchs­vol­le­ren Gesamt­be­trach­tun­gen. Im Rah­men der schon erwähn­ten neu­en Unter­stüt­zungs­ver­fah­ren für kom­ple­xes Den­ken und Ent­schei­dun­gen ist jedoch auch die­se Her­aus­for­de­rung gut zu bewältigen.

6) Dia­lo­gi­sches Gestal­ten im Wech­sel­spiel von Ein­griff und Beobachtung

Gera­de bei hoch­kom­ple­xen Sys­te­men, die sich struk­tu­rell lau­fend ver­än­dern, ist klas­si­sches „Steu­ern“ zuneh­mend imp­rak­ti­ka­bel. Ersetzt wer­den kann und soll­te die­ser „diri­gis­ti­sche Hand­lungs­mo­dus“ durch eine neue Her­an­ge­hens­wei­se, die man als „dia­lo­gi­sches Gestal­ten“ cha­rak­te­ri­sie­ren könn­te. Geprägt ist die­ser Ver­hal­tens­ty­pus von einem stän­di­gen Wech­sel­spiel von Ein­grei­fen und Beob­ach­ten – ver­gleich­bar in etwa mit dem Künst­ler, der immer wie­der einen Schritt von sei­nem Werk zurück­tritt, betrach­tet, was sich erge­ben hat, und dann wie­der­um das sich Erge­ben­de weitergestaltet.

7) Neue For­men der Kom­mu­ni­ka­ti­on von Poli­tik und der demo­kra­ti­schen Partizipation

Aus­ge­hend von der Erfor­schung kom­ple­xen Den­kens kann man heu­te auch sehr anspruchs­vol­le Gedan­ken­gän­ge Schritt für Schritt unter­stüt­zen, sicht­bar und aktiv nach­denk­bar machen. Zugleich kann man auch die rasch wach­sen­den und immer facet­ten­rei­che­ren Wis­sens­räu­me, die unse­re Epo­che cha­rak­te­ri­sie­ren, auf ganz neue Wei­se sicht­bar und vor allem auch anstren­gungs­los navi­gier­bar machen.

Das von der Par­men­i­des Stif­tung ent­wi­ckel­te Modell einer „eAgo­ra“ inte­griert die­se Mög­lich­kei­ten in eine neu­ar­ti­ge „cogni­ti­ve work­bench“ für die Erar­bei­tung und Kom­mu­ni­ka­ti­on lang­fris­tig trag­fä­hi­ger Poli­tik­kon­zep­te. The­se ist also, dass der hier skiz­zier­te und ein­ge­for­der­te Para­dig­men­wech­sel poli­ti­schen Han­delns auch grund­le­gend neue metho­do­lo­gi­sche Her­an­ge­hens­wei­sen erfor­dert. Im Zen­trum steht dabei die Auf­ga­be, trotz rapi­de zuneh­men­der Kom­ple­xi­tät, den jewei­li­gen Gesamt­zu­sam­men­hang einer Pro­blem­stel­lung wie­der sicht- und gestalt­bar zu machen. Dank bald zwan­zig­jäh­ri­ger Arbei­ten im Bereich der Grund­la­gen- und ange­wand­ten For­schung ste­hen geeig­ne­te Ver­fah­ren dafür heu­te jedoch zur Verfügung.

Fazit: Wir brau­chen ein neu­es Para­dig­ma poli­ti­schen Handelns

Das heu­ti­ge Modell poli­ti­schen Han­delns ist res­sort­fo­kus­siert, es berück­sich­tigt meist nur den kurz­fris­ti­gen Zeit­ho­ri­zont und es ist oft­mals an Mini­mal­kon­sen­sen aus­ge­rich­tet. Die­ses Modell kommt mit rapi­de zuneh­men­der Kom­ple­xi­tät bei gleich­zei­tig immer rasche­rem, heu­te schon zum Nor­mal­zu­stand gewor­de­nen Struk­tur­wan­del nicht zurecht. Die Wäh­ler spü­ren die Unan­ge­mes­sen­heit des heu­te domi­nie­ren­den Poli­tik­mo­dells und vie­le von ihnen wan­dern des­halb zu gefähr­li­chen Dem­ago­gen ab. Wirk­lich lösen wer­den wir sowohl die Sach­pro­ble­me wie auch die Her­aus­for­de­rung des Popu­lis­mus erst, wenn wir wie­der in der Tie­fe durch­dach­te und fas­zi­nie­ren­de poli­ti­sche Lösungs­an­sät­ze anzu­bie­ten haben.

Prof. Dr. Albrecht von Mül­ler, gebo­ren 1954 in Mün­chen, lei­tet das inter­dis­zi­pli­nä­re Par­men­i­des Cen­ter for the Stu­dy of Thin­king und unter­rich­tet Phi­lo­so­phie an der Lud­wig-Maxi­mi­li­ans-Uni­ver­si­tät in Mün­chen. Sei­ne fach­li­chen Inter­es­sens­schwer­punk­te sind das Kon­zept der Zeit und die Theo­rie kom­ple­xen Den­kens. Seit vie­len Jah­ren berät er Regie­run­gen und inter­na­tio­na­le Einrichtungen.