Das Projekt Umkehrschub: Warum CDU/CSU ihre alten Festplatten löschen sollten
Die Union steht vor gewaltigen Herausforderungen. Es geht um nichts Weniger als ihren Status als Volkspartei. Dazu braucht es neben neuen Personen auch neue Inhalte. Joachim Koschnicke, ehemaliger CDU-Kampagnenstratege, beschreibt, warum die Union jetzt dringend eine 180-Grad-Wende benötigt.
Foto: CDU (Tobias Koch)
Zwei Formeln belgeiten uns in der jüngeren Geschichte der Union: Die eine sagt, Parteivorsitz und Kanzlerschaft müssen vereint sein. Die andere, CDU und CSU müssen zusammenbleiben.
Die erste der beiden Junktim-Formeln hat unsere Vorsitzende aufgelöst. Dieser Schritt hat eine unfassbare Größe, da Angela Merkel dadurch sowohl ihrer Verantwortung für die CDU als auch ihrem Amtseid als Bundeskanzlerin nachkommt. Zur Erinnerung: Als sie 1999 erst die Aufklärung und Rückkehr zur Ehrlichkeit über Personen stellte und im Folgejahr auch den Parteivorsitz übernahm, hat sie eine Ära eingeleitet, die dem Land wie der Partei in Summe sehr viel mehr Gutes als Schlechtes gebracht hat. Durch ihren souveränen Rückzug ermöglicht sie eine Inventur und strategische Neuaufstellung.
Zur Inventur gehört zunächst ein Blick auf die vergangenen Wahlen. Das Gute zuerst. Die Zeit des Jammerns über niedrige Wahlbeteiligungen ist (trotz der Hessen-Wahl) vorbei. Die Gesellschaft ist politisiert oder weniger verquast ausgedrückt: Sie ist in Unruhe. Nun kommt es aber: Auch wenn die Wahlbeteiligung hoch ist, profitieren wir nicht davon. Ich gehe noch eins weiter: Wir profitieren nicht von hohen Wahlbeteiligungen – wir provozieren sie.
Provozieren durch die Ermüdung und mangelnde Sinnstiftung der Großen Koalition und den drei sie tragenden Parteien. Provozieren durch mangelnde kulturelle Kompetenz ‑Sprache und Programmatik von CDU und CSU erreichen nur noch diejenigen, die bereits überzeugt sind. Provozieren, drittens, durch mangelnde Zuwendung und Debattenkultur.
Ein Beispiel für mangelnde Zuwendung: Die Datenschutzgrundverordnung hat hehre Ziele, aber verheerende Auswirkungen insbesondere für ehrenamtliche und kleine Strukturen: Ob Orts- oder Sportverein, NGO, Kita oder kleine Selbstständige – viele empfinden es nicht als Schutz der Freiheit, sondern als Einschränkung und Belastung.
Ein Beispiel für mangelnde Debattenkultur: Zuletzt haben wir es kläglich verpasst, eine ehrliche Aufarbeitung von den Ausschreitungen in Chemnitz vorzunehmen. Eine Aufarbeitung, die vielleicht festgestellt hätte, dass nicht alle, die gegen etwas demonstrieren, Nazis sind. Eine Aufarbeitung, die vielleicht zweitens festgestellt hätte, dass eine gewisse Anzahl der Demonstranten, wie auch der Frustrierten daheim, erreichbar für uns und unsere Argumente wäre – wenn wir sie nicht permanent stigmatisieren würden. Eine Aufarbeitung, die vielleicht drittens ergeben hätte, dass wir die AfD durch Stigmatisierung stark, durch Arroganz noch stärker machen, und sie nur durch Aushungern zum Irrtum der Geschichte machen können.
Aushungern heißt nicht, sie zu kopieren oder ihnen hinterherzulaufen. Aushungern heißt, die Sorgen der Frustrierten zu lösen – im Falle der AfD insbesondere auf den Feldern Flüchtlinge und Europa – bei beiden Großprojekten fehlt es an viel. Wir können die Errungenschaften Europas nachts im Schlaf benennen, aber haben keine Vision für die Zukunft. Die Faszination Europas ist bedroht. Würden alle Mitgliedsstaaten gleichzeitig Referenden durchführen, wüssten wir nicht, wie groß oder klein Europa nach Auszählung der Stimmen noch wäre.
Wir bekennen uns gemeinsam zum christlichen Menschenbild, scheitern aber, es auf die Flüchtlings- und Integrationspolitik anzuwenden bzw. eine Balance zwischen unserer Verantwortung vor Menschen in Not und dem nationalen Interesse zu finden.
Hier darf die Inventur aber nicht enden: Die Bayern- und Hessen-Wahlen haben gezeigt, dass wir nicht nur an die AfD verlieren. Schlimmer noch: Wir verlieren aktuell in etwa gleichen Teilen an Grüne wie an die AfD.
Es geht nicht um ein paar mehr Prozentpunkte bei Wahlen. Es geht um die Existenz als Volkspartei.
Unsere Herausforderung ist mehrdimensional. Und, es geht nicht um ein paar mehr Prozentpunkte bei Wahlen. Es geht um die Existenz als Volkspartei. Unser Anspruch kann nur Volkspartei sein. Volkspartei heißt, alle Bürgerinnen und Bürger statt nur eine Klientel zu vertreten. Man kann es auch anders herum betrachten: Es ist im nationalen Interesse, dass Deutschland Volksparteien erhalten bleiben.
Die Dimensionen, an welchen wir arbeiten müssen sind: Programm, Personen, Sprache sowie Haltung zur Großen Koalition und die strategische Aufstellung von CDU und CSU. Alle Dimensionen verlangen Ehrlichkeit und Raum für ernsthaften wie kontroversen Dialog.
Programm
Ich finde es gut, dass wir an einem neuen Grundsatzprogramm arbeiten. Ich fände es schlecht, wenn wir darauf warten. Wenn wir ehrlich sind, haben wir, hat Deutschland keine hinreichenden Antworten auf drängende Fragen. Beispiel Rente: Wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir den Begriff Rente durch den Begriff Grundsicherung ersetzen. Meine Generation und die folgenden werden sich nicht mehr den Lebensstandard leisten können, den sie vor Renteneintritt gelebt haben. Wir benennen das nicht ehrlich genug. Wir sind aktuell nicht bereit, eine ehrliche Debatte über die Folgen und Lösungen zu führen.
Beispiel Durchsetzung von Recht: Wenn wir es ehrlich meinen, hätten wir nach G20 in Hamburg wie nach rechten Ausschreitungen an anderen Orten feststellen müssen, dass wir nicht in der Lage waren, Recht durchzusetzen, sondern das Gewaltmonopol abgegeben haben. Wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir feststellen, dass wir aktuell keine überzeugende Rechtsetzung haben, die Abschiebungen gerichtsfest regelt. Und, wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir ebenso feststellen, dass wir generell mit Straftätern viel zu lasch umgehen – das fällt uns spätestens im Umgang mit Straftätern, die bei uns zu Gast sind, aber unsere Kultur mit Füßen treten, auf eben diese.
Beispiel Standortpolitik: Wenn wir es ehrlich meinen, müssten wir längst eine Antwort auf die Strategie „China 2025“ formuliert haben. China hat vorgelegt und transparent gemacht, wo es bis 2025 vorne sein will und was es dafür machen will. Ein Beispiel? China schafft 1.000 Lehrstühle für Künstliche Intelligenz. Und wir? Wir haben meines Wissens weniger als eine Handvoll, behaupten aber, dass Deutschland große Chancen im Bereich der künstlichen Intelligenz habe. Haben wir nicht. Haben wir nicht mehr! Wir haben es verschlafen. Es wird erfolgreiche deutsche Unternehmen geben, aber unser Standort ist abgeschlagen.
Während wir in Deutschland Standortvorteile abgeben, verspielt Europa gleichzeitig seinen Größenvorteil. Obwohl Europa mehr Einwohner hat als die USA, können neue Geschäftsmodelle in den USA schneller skalieren. Ein fragmentierter Binnenmarkt und mangelnde digitale Infrastruktur beschränken das Wachstumstempo von Start-ups wie von etablierten Unternehmen. So gibt es beispielsweise allein 81 verschiedene Mehrwertsteuersätze in Europa, die Start-ups und Unternehmen berücksichtigen müssen, dazu unzählige national unterschiedliche Rechtsvorschriften vom Wettbewerbs- bis zum Arbeitsschutzrecht.
Hinzu kommt eine vor allem in Deutschland im internationalen Vergleich rückschrittliche digitale Infrastruktur bei Glasfaser und schnellem Mobilfunk, so dass neue digitale Produkte nur langsam Konsumenten erreichen. Es wurde versäumt, gesetzliche Grundlagen dafür zu schaffen, dass die digitale Infrastruktur in Deutschland selbstverständlich genau wie Strom und Wasser zum Teil der Daseinsvorsorge gehören muss und wir genau wie beim Strom eigentlich nur eine Leitung und möglichst viele Anbieter benötigen, um durch Wettbewerb Qualität und Verbraucherinteressen in Einklang zu bringen.
Um den Handlungsdruck für eine aktive Standortpolitik vollends aufzuzeigen: Keine der zwanzig weltweit führenden Computer Science Fakultäten ist in Deutschland. Nur vier finden sich überhaupt in der Europäischen Union – alle in Großbritannien, das die EU bald verlässt. Kein Wunder, dass schon heute 80.000 Deutsche im Silicon Valley arbeiten. Und: Wir verlieren auch deswegen Köpfe, weil es dramatisch an Risiko- und Wachstumskapital fehlt. Im ersten Halbjahr 2018 wurden in Europa 10,8 Milliarden Euro Venture Capital eingeworben, weniger als die Hälfte der 23 Milliarden, die in den USA allein im letzten Quartal eingesammelt wurden. In China waren es 21,2 Milliarden im selben Zeitraum.
All dies sind keine Themen, die auf das Grundsatzprogramm warten bzw. dort zufriedenstellend gelöst werden können. Wie vom Essener Parteitag 2000 muss vom Hamburger Parteitag 2018 der klare Auftrag einer programmatischen Neuaufstellung ausgehen, die auch unser Regierungshandeln beeinflussen muss.
Personen
Der Parteitag in Hamburg wird die Nachfolge von Angela Merkel bestimmen. Damit erneuert sich nach der Fraktion auch die Partei personell. Wenn alle Beteiligten die Größe haben, sich am Ende des Parteitages zur Nationalhymne die Hand zu reichen, kann das notwendige Projekt Umkehrschub unmittelbar starten: Von der Provokation zum Magnetismus. Vom Gegeneinander zum Miteinander. Vom Verlieren zum Gewinnen.
Sprache
Unsere Programmsprache stammt noch aus Bonner Zeiten. Das Blöde daran ist: Die Programmsprache ist auch Teil der Reden, Texte und Argumentationen. Da ran zu gehen ist leichter gesagt als getan: Die Bundespartei mit all ihren Ausschüssen und Kommissionen sollte bildlich gesprochen ihre Festplatten löschen. Die Schablonen aus Bonn müssen dringend ersetzt werden. Copy & Paste bei Programm-Texten muss der Vergangenheit angehören. Warum sind insbesondere die Grünen frischer? Weil sie eine Sprache sprechen, die verstanden wird und Nähe schafft. Die Grünen haben ihre Inventur und Transformation gemacht: Vom Bevormunden zum Vordenken.
Haltung zur Großen Koalition
Aktuell ist die Große Koalition eine Belastung für den Volkspartei-Anspruch der sie tragenden Parteien. Die notwendigen Antworten auf erwähnte und zahlreiche unerwähnte Fragen wird die CDU mit der heutigen SPD und dem nationalen Interesse nicht in Einklang bringen können. Weder in der Rente, noch in den Fragen einer strategischen Standortpolitik. Die CDU hat zwei Optionen, das Projekt Umkehrschub umfassend zu verstehen: Die eine ist die Neuwahl, die andere der erneute Versuch, eine Jamaika-Koalition zu bilden – solange letzteres nicht ernsthaft probiert wurde, gibt es keinen angemessenen Grund, Neuwahlen einzuleiten.
Die Kandidaten zum Parteivorsitz sollten sich in dieser Frage erklären: Fortsetzung der Großen Koalition oder Jamaika erneut eine Chance geben?
Strategische Aufstellung von CDU und CSU
Die Formel, dass CDU und CSU nur in der bestehenden Gemeinschaft erfolgreich sein können, wurde eingangs erwähnt. Ich stelle sie in Frage. Die Welt wird immer kleiner. Je kleiner sie wird, desto mehr Kompetenz außerhalb des eigenen Dunstkreises ist gefragt. Der Dunstkreis der CSU ist Bayern – CSU-Europaabgeordnete fügen noch europapolitische Kompetenz hinzu.
Es würde der CSU sehr gut tun, sich auch mit den Herausforderungen anderer Bundesländer zu befassen. Der Grund, weswegen Zugereiste in Bayern nicht die CSU wählen, ist, weil sie die CSU solange als nicht wählbar empfinden, wie sie sich selbst nicht als bayrisch fühlen. Die Lösung der CSU liegt also außerhalb Bayerns, aber innerhalb Deutschlands. Was soll zudem der Nachteil der CDU sein? Sie könnte vielmehr die Inventur und Neuaufstellung ehrlicher und umfassender angehen. Ein Aussetzen der Fraktionsgemeinschaft könnte zudem a) in einer strategischen Partnerschaft münden und b) zunächst zeitlich begrenzt sein.
Joachim Koschnicke war von 1999–2011 im Konrad-Adenauer-Haus tätig — zuletzt als Bereichsleiter für strategische Planung und strategische Kommunikation. Von 2011–2012 war er Forsa-Geschäftsführer, seit 2013 arbeitete er in der Geschäftsführung von Opel / General Motors Europe. Seit 2018 ist Koschnicke Partner bei Hering Schuppener Consulting, einer Managementberatung für strategische Kommunikation.
(Der Beitrag erschien in der am 6. Dezember 2018 veröffentlichten CIVIS mit Sonde 03–2018.)