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Zeit zu handeln Deutschlands Rolle in der Welt

  • Autorenbild: Civis
    Civis
  • 17. März
  • 7 Min. Lesezeit

von James Bindenagel und Rüdiger Lentz





Frieden und Sicherheit sind die Grundpfeiler, um Werte und Interessen zu wahren. Der unprovozierte Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat die Weltordnung erschüttert, nun braucht es mehr als den Ruf eines Paradigmenwechsels und blumige Strategiepapiere.


Der ehemalige US-Botschafter, James Bindenagel, und der ehemalige Chef des Aspen Instituts, Rüdiger Lenz, fragen gemeinsam, welche Konsequenzen die sogenannte Zeitenwende der Bundesregierung haben muss. Sie skizzieren Prioritäten für die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik und plädieren für eine Neujustierung der transatlan- tischen Beziehungen.


Die Frage nach der Rolle Deutschlands in der Welt ist so alt wie die Bundesrepublik. Am Anfang war sie einfach zu beantworten: zunächst Besatzungs- zone, dann eine mehr oder weniger souveräne Enti- tät von Gnaden der Alliierten Westmächte, und erst ab 1955 – praktisch zeitgleich mit dem Eintritt in die NATO – ein voll souveränes Land, fest integriert in die westliche Verteidigungsallianz.

Deutschlands Rolle begann mit der eindeutigen Westbindung der Bundesrepublik, die praktisch einherging mit der Wiederbewaffnung. Sie wurde forciert unter Ade- nauer, anfangs heftig bekämpft von der sozialdemo- kratischen Oppositionspartei und erst mit dem Go- desberger Programm auch von der SPD akzeptiert. In den Folgejahren wurde sie über alle Parteien hinweg als das Fundament deutscher Außen- und Sicherheitspolitik anerkannt und ist seitdem ein Kontinuum des politischen Handelns der etablierten Parteien in der Bundesrepublik.


Erst mit Beginn der sozialliberalen Koalition 1969 und nach dem Harmel-Bericht von 1967 initiierte Deutschland die sogenannte Entspannungspolitik, die Detente, die Deutschland plötzlich in eine ak- tive Rolle gegenüber Osteuropa katapultierte. Dies- mal waren die SPD unter Kanzler Brandt und die FDP die treibenden Kräfte der Auflockerungsstrategie gegenüber Moskau und Osteuropa.


Diese Strategie der begrenzten Kooperation mit dem Osten war eng mit den Verbündeten in der NATO und vor allem den USA abgestimmt. Und sie basierte auf einer Politik militärischer Stärke und dem System der gegenseitigen Anerkennung mili- tärischer Abschreckungsprinzipien zwischen dem Warschauer Pakt und der NATO. Die außenpolitische Gleichung damals war sehr einfach: Verteidigung + Entspannung = Sicherheit! Dieses Axiom lag auch den Erfolgen der KSZE zu Grunde: der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die die Grundzüge eines friedlichen Miteinanders zwischen Ost und West erstmals über die ideologischen Grenzen hinweg verbindlich definierte.

Der KSZE-Prozess war mit dem entscheidenden Faktor für die Entwicklung hin zum Mauerfall 1989, der Auflösung des Warschauer Paktes und dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Und was kam dann? Der Traum vom "Ende der Ge- schichte" und einer demokratischen, westlich orientierten Welt von Wladiwostok bis Vancouver ist längst ausgeträumt. Während die Neunzigerjahre noch von einer unangefochtenen amerikanischen Vorherrschaft dominiert waren, entwickelte sich das neue Jahrhundert sehr schnell zu einer multipolaren Gemenge- und Gefahrenlage, gekennzeichnet von dem schwindenden Einfluss und Engagement Amerikas, einem rasanten wirtschaftlichen und militärischen Aufstieg Chinas und einer revisionistischen und aggressiven Außenpolitik Russlands.


Die erratische Außenpolitik der USA unter Präsident Donald Trump hat die Brisanz dieser außenpolitischen Rahmenbedingungen noch verschärft. Unter den Umständen dieser globalen Komplexität fällt und fällt es der deutschen Außen- und Sicher- heitspolitik schwer, sich eindeutig zu positionieren und die Interessen und Ziele der eigenen Nation überzeugend festzuschreiben.


So zynisch es klingt, erst der Überfall Russlands auf die Ukraine hat uns und den gesamten Westen gezwungen, unser eigenes Sicherheitsdispositiv wieder zu überdenken, neue außenpolitische Überlegungen anzustellen und die Resilienz unserer eigenen Sicherheit neu zu definieren. Und dabei geht es nicht nur um das Zwei-Prozent- Ziel und einer ausreichenden militärischen Vertei-digung und Abschreckung, sondern um viel mehr: um die Zukunft der transatlantischen Beziehungen, die Rolle und Überlebensfähigkeit der NATO und die Frage nach der Kohäsion und politischen Überlebensfähigkeit der Europäischen Union.

Die Ampelkoalition hat versucht, dem durch ihr Konzept einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie Rechnung zu tragen. Doch geben die darin festgelegten Ziele und Absichten ausreichende und überzeugende Antworten auf die gegenwärtigen und zukünftigen außen- wie sicherheitspolitischen Herausforderungen?


»Deutschlands erste Nationale Si- cherheitsstrategie, die am 14. Juni 2023 veröffentlicht wurde, ist ein Schritt in die richtige Richtung, um Deutschlands Rolle neu zu definie- ren, auch wenn sie an vielen Stellen nur Bekanntes wiederholt.«

Deutschlands erste Nationale Sicherheitsstrategie, die am 14. Juni 2023 veröffentlicht wurde, ist ein Schritt in die richtige Richtung, um Deutschlands Rolle neu zu definieren, auch wenn sie an vielen Stellen nur Bekanntes wiederholt.



Auf die Umsetzung kommt es an


Positiv ist, dass sie deutsche Interessen umfassen- der definiert und um den Begriff der integrierten Sicherheit erweitert hat. Sie versäumt es jedoch, Prioritäten und Strategien für die Bewältigung si- cherheitspolitischer Herausforderungen zu setzen. Insbesondere muss es jetzt darum gehen, Alterna- tiven zur strategischen Abhängigkeit Deutschlands zu formulieren:

• die Abhängigkeit von billigen, russischen fossilen Brennstoffen;

• die Abhängigkeit von den Exporten nach und Importen aus China;

• und die Abhängigkeit von amerikanischen Sicherheitsgarantien für Europa.


Von diesen drei Punkten sind die Überlegungen zu Alternativen zur russischen Energie am weitesten fortgeschritten, und die China-Strategie vom 13. Juli 2023 hat das Verhältnis zu China und Ostasien zumindest ansatzweise geklärt. Zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen hat die Bundesregierung über die bekannten und bewährten Aussagen hinaus jedoch keine neuen Impulse gegeben.

Russland und die osteuropäische Region


In der Nationalen Sicherheitsstrategie heißt es ein-deutig, dass das heutige Russland „auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euro-atlantischen Raum darstellt.” Diese Bedrohung bleibt solange bestehen, wie in Russland ein autokratisches Regime mit imperialistischen Großmachtambitionen regiert, das sich nicht um völkerrechtliche Grundsätze schert und die territoriale Integrität seiner Nachbarn in Frage stellt. Viele Menschen fragen sich gegenwärtig, wie der Krieg gegen die Ukraine beendet werden kann und ob ein politisch nachhaltiger Frieden möglich ist. Der Ruf nach Verhandlungen ist jedoch verfrüht und gefährlich für den Frieden in Europa. Er führt nur zu einem eingefrorenen Konflikt in Europa, nicht zum Frieden. Einige US-Strategen und Diplomaten machen derzeit die gleichen Fehler wie in den 2000er Jahren bei den "eingefrorenen Konflikten" im Südkaukasus und 2014 beim Einmarsch Russlands auf der Krim und im Donbass.


Das heißt, sie befürworten einen Waffenstillstand, ohne die langfristigen Auswirkungen auf Frieden und Sicherheit in der Region und die vorhersehbaren verheerenden Auswirkungen für den Zusammenhalt der NATO und der EU zu bedenken. Deutschlands Verantwortung muss es deshalb sein, sich offensiv für einen frühzeitigen NATO-Beitritt der Ukraine einzusetzen. Er ist der einzige Garant, Putins Expan- sionspolitik nachhaltig zu stoppen.


Beziehung zu China


Die kürzlich veröffentlichte deutsche China-Strategie präzisiert, was es bedeutet, dass China ein „Partner, Konkurrent und systemischer Rivalw“ ist. Sie räumt auch ein, dass die "Elemente der Rivalität und des Wettbewerbs" in den letzten Jahren durch das Verhalten Chinas zugenommen haben. So weit, so gut. China ist im Gegensatz zu Russland, das seinen Nie- dergang als Weltmacht mit allen autokratischen und militärischen Mitteln zu verhindern versucht, eine aufstrebende Weltmacht. Das Reich der Mitte ist nach wie vor der größte Handelspartner Deutschlands und der EU, so dass eine Abkopplung der deut- schen und europäischen Wirtschaft von China verheerende Folgen für die deutsche Wirtschaft haben würde. In der China-Strategie wird bis zu einem ge- wissen Grad dargelegt, was „De-Risking“ bedeutet.


Sie zeigt jedoch keine klaren „roten Linien“ für deutsche Unternehmen auf, die damit gezwungen sind, weiterhin auf eigenes Risiko und ohne klare politische Leitlinien zu operieren.


Transatlantische Beziehungen und die EU


Während die Nationale Sicherheitsstrategie eine klare Position zu Russland bezieht und die China- Strategie die deutsche Haltung gegenüber Peking zumindest nuanciert, muss das transatlantische Ver- hältnis neu justiert werden. Stattdessen wiederholt die Nationale Sicherheitsstrategie bekannte Positionen des gleichzeitigen Engagements bei der NATO und der EU (das Bekannte: „sowohl als auch“).

Aber auch hier muss die Zeitenwende Konsequenzen für Deutschlands Rolle haben. Die innenpolitische Polarisierung in den Vereinigten Staaten ist nicht vor- bei. Sie wird sich in den kommenden Jahren auch weiter massiv auf die künftige Rolle der USA als Weltmacht auswirken. Und das unabhängig davon, wer die US-Präsidentschaftswahlen 2024 gewinnt. Die Zeiten, in denen Europa und Deutschland ihre Sicherheit auf das strategische Engagement der USA in Europa gründeten, sind unwiderruflich vorbei. Daher ist es an der Zeit, dass Deutschland eine führende Rolle bei der Neujustierung der transat- lantischen Beziehungen in Europa übernimmt.

Dazu gehören unter anderem:

• der massive Ausbau des europäischen Pfeilers in der NATO;

• die Übernahme auch militärischer Lasten durch Europa und Deutschland im Indo-Pazifik;

• die Unterstützung der mittel- nord- und ost- europäischen Mitgliedstaaten von NATO und EU beim Aufbau resilienter Verteidigungsstrukturen;

• der Auf- und Ausbau einer effektiven europäischen Rüstungsindustrie.


Vor allem Letzteres ist ohne Verzug einzuleiten: Da so viele Waffen- und Munitionsbestände zur Verteidigung der Ukraine aufgebraucht wurden, bietet sich jetzt die einmalige Gelegenheit, eine gemeinsame europäische Verteidigungspolitik und Rüstungsbeschaffung in Angriff zu nehmen. Kon- kurrierende nationale Waffensysteme und die Frag- mentierung der Produktion untergraben die euro- päische Sicherheit. Richtig genutzt könnte Scholz 100-Milliarden- Euro-Sonderfonds für die Bundeswehr dazu beitragen, die Standardisierung und Normierung von Waffen und Munition der europäischen NATO- Partner voranzubringen.


Zu begrüßen ist in diesem Zusammenhang die Initiative der EU-Kommission zur Stärkung der euro- päischen Verteidigungsindustrie durch das gemein- same Beschaffungswesen (EDIRPA). Damit soll ein Standardinstrument für die Beschaffung von Verteidigungsgütern geschaffen werden, das die dringendsten und kritischsten Lücken in den Verteidi- gungsfähigkeiten der EU schließen hilft. Zeitenwende Wenn die Zeitenwende ein Erfolg werden soll, dann muss Deutschland eine aktivere und verantwor- tungsvollere Rolle übernehmen. Berlin als europäische Führungsmacht – wohne Vormacht zu sein – wird von seinen Nachbarn schon lange gefordert. Emmanuel Macron ermutigt Deutschland bei jeder Gelegenheit, auf globaler Ebene aktiver zu werden, und Radek Sikorski, Polens ehemaliger Außenminister, hat schon 2011 zu Recht postuliert: "Ich fürchte Deutschlands Macht weniger, als ich anfange, seine Untätigkeit zu fürchten."


Der durch den Ukraine-Krieg ausgelöste überraschend große Zusammenhalt beider Bündnisse ist keineswegs eine Garantie dafür, dass das auch weiter so bleibt. Deshalb kommt Deutschland – insbeson- dere zusammen mit Frankreich, Polen und Großbri- tannien eine Sonderrolle zu, um seine Interessen und Werte mit denen seiner europäischen Partner sowie den amerikanischen und asiatischen Verbündeten so zur Geltung zu bringen, dass die regelbasierte Welt- ordnung überleben kann. Scheitert die Zeitenwende, werden künftige Generationen den englischen His- toriker A.J.P. Taylor zitieren, der über die Revolution von 1848 sagte, dass „die deutsche Geschichte ihren Wendepunkt erreichte und es versäumte, sich zu wenden“. Jetzt nicht zu handeln oder zu spät zu han- deln sind keine Optionen für Deutschland.




James D. Bindenagel ist US-Botschafter a.D., Henry Kissinger Professor Emeritus an der Universität Bonn und Senior Non-Resident Trans- atlantisch Fellow beim German Marshall Fund der United States.  


Rüdiger Lentz ist Journalist, ehemaliger Militärkorrespondent des Spiegels und langjähriger Direktor des deutsch-amerikanischen Aspen Institute in Berlin. Er arbeitet heute als Senior Advi- sor bei der nordischen Public Affairs Gruppe Rud Pedersen.

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