“Quo vadis, CDU?” – Impuls 6: Kai Whit­taker über das Gefühl der Uni­on für die Lebens­wirk­lich­keit der Men­schen, Zukunfts­vi­sio­nen für Deutsch­land und die Kom­pe­tenz zur Pro­blem­lö­sung statt Selbstbeschäftigung.

Die Euro­pa­wahl war ein his­to­ri­scher Ein­schnitt in der deut­schen Poli­tik: Die bei­den Volks­par­tei­en CDU und SPD schnit­ten so schlecht ab wie noch nie. Die Grü­nen wur­den erst­mals zweit­stärks­te Kraft bei einer natio­na­len Wahl. Deutsch­land drif­tet poli­tisch aus­ein­an­der — wäh­rend in vie­len Städ­ten die Grü­nen domi­nie­ren, gibt im Osten die AfD den Ton an. Jun­ge Wäh­ler lau­fen in Scha­ren von den tra­di­tio­nel­len Par­tei­en davon. CDU, SPD, FDP und die Lin­ke kom­men bei Wäh­lern unter 25 Jah­ren zusam­men auf 36 Pro­zent und sind damit in etwa so stark wie die Grü­nen allei­ne mit ihren 34 Prozent.

Die­se Euro­pa­wahl ist eine Nie­der­la­ge mit Ansa­ge gewe­sen. Begin­nend mit der Dür­re im letz­ten Jahr und den seit Mona­ten pro­tes­tie­ren­den Schü­lern der „Fri­days for Future“-Bewegung ist das The­ma Kli­ma­schutz ganz oben auf der Agen­da. Die man­geln­de Sen­si­bi­li­tät mit der Digi­ta­li­sie­rung, ins­be­son­de­re der Debat­te um das Urhe­ber­recht und dem berühm­ten Arti­kel 13, ver­stärk­te das Gefühl, dass die The­men der jun­gen Men­schen nicht wich­tig genom­men wer­den. Der unge­len­ke Umgang sei­tens der CDU mit dem You­tube-Star Rezo bestä­tig­te dann alle Vor­ur­tei­le gegen­über der CDU als einer behä­bi­gen, stu­ren und ver­greis­ten Par­tei. Den­noch wäre es zu ein­fach, das schlech­te Wahl­er­geb­nis der CDU nur auf die­se Ereig­nis­se zurück­zu­füh­ren. Denn im Umkehr­schluss wür­de es ja bedeu­ten, dass man nur ein wenig die Kli­ma­re­zep­te der Grü­nen anpas­sen und über­neh­men, ein paar hip­pe Digi­tal­po­li­ti­ker ins Schau­fens­ter stel­len und etwas läs­si­ger im Netz kom­mu­ni­zie­ren müss­te, damit die CDU wie­der Volks­par­tei­er­geb­nis­se einfährt.

Nein, das eigent­lich his­to­ri­sche an der Euro­pa­wahl ist, dass sie die schon lan­ge schwe­len­den Schwä­chen der Volks­par­tei­en sicht­bar gemacht hat. Mei­ne Par­tei muss sich nun ent­schei­den, ob sie die­se Schwach­stel­len repa­rie­ren will oder nichts tut — bis alles zusam­men­bricht. Bei­des sind rea­lis­ti­sche Sze­na­ri­en. Aus mei­ner Sicht gibt es in der CDU drei gra­vie­ren­de Schwachstellen.

Ers­tens: Wir haben das Gefühl für die Lebens­wirk­lich­keit der Men­schen ver­lo­ren. Das durch­schnitt­li­che Mit­glied in der CDU ist ein 60-jäh­ri­ger Mann. Der Durch­schnitts­bür­ger in Deutsch­land ist aber eine 45-jäh­ri­ge Frau. Die CDU hat vie­le Ver­ei­ni­gun­gen, die die unter­schied­lichs­ten gesell­schaft­li­chen Grup­pen anspre­chen sol­len: die Jun­ge Uni­on, die Frau­en Uni­on, die Mit­tel­stands­ver­ei­ni­gung, die Christ­lich-Demo­kra­ti­sche Arbeit­neh­mer­schaft, die Senio­ren Uni­on und vie­le ande­re. Doch mein Ein­druck ist, dass sie das genau nicht mehr tun. Wenn eine so gro­ße Bewe­gung wie Fri­days for Future kom­plett an der Jun­gen Uni­on vor­bei­geht und nur noch jeder zehn­te Jugend­li­che etwas mit der CDU anfan­gen kann, muss die­ser Umstand die Jun­ge Uni­on in Auf­ruhr ver­set­zen. Allein­er­zie­hen­de Müt­ter und jun­ge Frau­en haben bei uns eher Sel­ten­heits­wert. Start-Up-Grün­der und Fami­li­en­un­ter­neh­mer der drit­ten Genera­ti­on sehen bei uns ihre Hei­mat nicht. Men­schen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund, deren Eltern als Gast­ar­bei­ter nach Deutsch­land kamen und viel­leicht eine Auf­stei­ger­kar­rie­re hin­ter sich haben, stün­den bei­spiels­wei­se unse­rer CDA gut zu Gesicht.

Wie gewin­nen wir also wie­der die Men­schen zurück, die das Lebens­ge­fühl unse­res Lan­des ver­kör­pern? Unse­re bis­he­ri­ge Arbeits­wei­se aus vie­len Ver­ei­ni­gun­gen und Par­tei­glie­de­run­gen ist nicht mehr zeit­ge­mäß. Oft steht der Pro­porz, also Her­kunft, Geschlecht, „Flü­gelden­ken“, bei der Pos­ten­ver­tei­lung im Vor­der­grund und nicht die benö­tig­ten Fähig­kei­ten. Jede Par­tei­ein­heit, vom Orts­ver­band bis zur Bun­des­ebe­ne, hat einen Par­tei­vor­stand. Er besteht min­des­tens aus einem Vor­sit­zen­den, einem Stell­ver­tre­ter, einem Schatz­meis­ter und wei­te­ren Bei­sit­zern. Mit Schrift­füh­rer, Pres­se­re­fe­ren­ten, Mit­glie­der­be­auf­trag­ten etc. sit­zen häu­fig über 20 Per­so­nen in den Vor­stän­den. Aller­dings hat die Orts­ebe­ne häu­fi­ger das Pro­blem, genug akti­ve Mit­glie­der zu fin­den. Die­ser hohe per­so­nel­le Auf­wand steht in kei­nem Ver­hält­nis zur eigent­li­chen Arbeit, die häu­fig ver­wal­tungs­tech­ni­scher Natur ist: Haus­halt beschlie­ßen, Wah­len vor­be­rei­ten, Kan­di­da­ten suchen. Meist wird bei sol­chen Sit­zun­gen leb­haft über die all­ge­mei­ne Bun­des- und Lan­des­po­li­tik dis­ku­tiert und am Ende fah­ren vie­le frus­triert über die Poli­tik „von denen da oben“ nach Hau­se. Die eigent­li­che poli­ti­sche Arbeit — Kon­zep­te und Ideen zu ent­wi­ckeln — bleibt aus, weil es dazu wei­te­re Abend­ter­mi­ne bräuchte.

Es wäre daher bes­ser, die Vor­stän­de auf einen Rumpf von Vor­sitz, Stell­ver­tre­tung, Schatz­meis­ter und zwei wei­te­ren Per­so­nen für die rei­ne ver­wal­tungs­or­ga­ni­sa­to­ri­sche Arbeit zu reduzieren.

Somit wür­de sich die poli­ti­sche Arbeit wie­der auf die Mit­glie­der ver­la­gern, die in Foren, Ver­samm­lun­gen oder Work­shops sich zu kon­kre­ten The­men zeit­lich begrenzt enga­gie­ren könn­ten. Eine Ver­klei­ne­rung wäre auch in den obe­ren Eta­gen not­wen­dig. Sol­che Ver­än­de­run­gen wür­den uns mehr Zeit und Raum dafür schaf­fen, neue Leu­te, Quer­den­ker, Sei­ten­ein­stei­ger und schlum­mern­de Schät­ze in den Mit­glie­der­rei­hen anzu­spre­chen. Wir könn­ten auch ganz bewusst spe­zi­el­le Grup­pen in unse­re Arbeit ein­bin­den und ihnen unse­re gro­ße „Büh­ne“, unse­re Par­tei­ta­ge, über­las­sen. Par­tei­ta­ge fol­gen meist einer kla­ren Regie: Berich­te, Wah­len und Antrags­be­ra­tung. Das Inter­es­san­tes­te: die Reden der wich­ti­gen Poli­ti­ker ste­hen im Vor­der­grund und weni­ger die The­men­ar­beit. Da wir aber nur alle zwei Jah­re einen Wahl­par­tei­tag haben, könn­te in jedem ande­ren Jahr ein „Ideen­par­tei­tag“ statt­fin­den. Dort kön­nen auf ver­schie­de­nen The­men­po­di­en exter­ne Exper­ten, inter­es­san­te Red­ner außer­halb der Poli­tik, Wis­sen­schaft­ler oder Wirt­schafts­leu­te Impul­se geben. Erst wenn Mit­glie­der und Dele­gier­te auch mit neu­en Ideen kon­fron­tiert wer­den, kön­nen bis­he­ri­ge Posi­tio­nen hin­ter­fragt und neue ent­wi­ckelt werden.

Zwei­tens: Wir haben weder Ant­wor­ten auf die drän­gen­den Fra­gen unse­rer Zeit noch eine Zukunfts­vi­si­on, wo wir mit Deutsch­land hin wol­len und, wozu die CDU über­haupt Poli­tik macht. Bei den Grü­nen ist das Bild klar: saf­ti­ge Wie­sen, glück­li­che Kühe, sum­men­de Bie­nen, eine Fami­lie fährt mit dem Elek­tro­au­to zum Bio-Markt, im Hin­ter­grund dreht sich lei­se eine Wind­rad. Das ist ein woh­li­ges, anspre­chen­des Ziel­bild grü­ner Poli­tik. Bei der CDU gibt es nichts. Allen­falls ein gepfleg­tes „Ja, aber.“ Ja, wir sind für Kli­ma­schutz, aber die Wirt­schaft. Ja, wir sind für Ver­kehrs­wen­de, aber der Auto­fah­rer. Ja, wir sind für Kitas, aber die klas­si­sche Fami­lie. Das klingt eher nach Brem­se, als nach Zukunfts­lust. So lau­fen wir nur den The­men der ande­ren hin­ter­her, ver­su­chen in deren Bil­dern unse­re Akzen­te mit ein paar Pin­sel­stri­chen anzu­fü­gen und wun­dern uns dann, dass uns kei­ner mehr über­zeu­gend fin­det. Die­ses „Ja, aber“ ist tief ver­wur­zelt in der CDU mit ihren wider­strei­ten­den Grup­pen. Es ist der Ver­such, gegen­sätz­li­che Posi­tio­nen zu ver­söh­nen. Das bleibt unse­re Auf­ga­be und bedarf den­noch einer Veränderung.

Genau des­halb brau­chen wir ein kla­res Bild für die Zukunft. Ein Bild, bei dem wir „Ja“ sagen zu Inno­va­ti­on, um das Kli­ma zu schüt­zen und den Wohl­stand von mor­gen zu sichern. Bei dem wir „Ja“ sagen zur Glo­ba­li­sie­rung, um unse­re Wer­te und unse­re Stan­dards in die Welt zu brin­gen. Bei dem wir „Ja“ sagen zur Frei­heit, indem wir die Rech­te der Men­schen stär­ken und sie beschüt­zen, wo sie es selbst nicht können.

Um die­ses Ziel­bild zu errei­chen, müs­sen wir zum einen das gan­ze Wis­sen unse­rer Par­tei nut­zen. Das iri­sche Par­la­ment hat es vor­ge­macht: Um einen Volks­ent­scheid vor­zu­be­rei­ten, wur­den 100 Bür­ger zufäl­lig aus­ge­wählt. Sie beka­men eine kon­kre­te Fra­ge vor­ge­legt und muss­ten in einem kur­zen, defi­nier­ten Zeit­raum die­se Fra­ge beant­wor­ten. Dabei spra­chen sie mit Poli­ti­kern, Exper­ten und Wis­sen­schaft­lern. Am Ende wur­de die von den Bür­gern aus­ge­ar­bei­te­te Lösung in einem Volks­ent­scheid ange­nom­men. Ana­log könn­te die CDU einen Mit­glie­der­rat auf Bun­des­ebe­ne ein­be­ru­fen. 100 zufäl­lig aus­ge­wähl­te Mit­glie­der oder Exper­ten wer­den vom Bun­des­vor­stand beauf­tragt, ein The­ma in kür­zes­ter Zeit zu bear­bei­ten. Das kann dazu füh­ren, sehr strit­ti­ge The­men dau­er­haft zu befrie­den und auch neu­en, unkon­ven­tio­nel­len Ideen zumin­dest eine Mög­lich­keit zu geben, dem Bun­des­vor­stand prä­sen­tiert zu werden.

In einer digi­ta­len Welt müs­sen wir auch die ört­li­chen Gren­zen spren­gen. Mit­glie­der sind in Orts‑, Kreis‑, Bezirks- und Lan­des­ver­bän­den orga­ni­siert. Das ist und bleibt not­wen­dig, um die ört­li­chen Man­da­te mit Kan­di­da­ten zu bestel­len. Aber wir müs­sen es trotz­dem schaf­fen, dass Mit­glie­der, die sich bei­spiels­wei­se für die Mobi­li­tät der Zukunft begeis­tern oder Ver­brau­cher­schutz­ex­per­ten sind, sich deutsch­land­weit ver­net­zen zu kön­nen. Wir brau­chen eine Platt­form, auf der unse­re Mit­glie­der ihre Pro­fi­le mit ihren Stär­ken und ihrem Wis­sen hoch­la­den kön­nen, um sich zu begeg­nen und am sel­ben The­ma arbei­ten zu kön­nen. Nur gemein­sam wer­den wir das neue Bild malen können.

Zum ande­ren müs­sen wir das, was wir wol­len, auch kom­mu­ni­zie­ren. Nach innen wie nach außen. Infor­ma­tio­nen und Ent­schei­dun­gen müs­sen wir schnel­ler und ver­ständ­li­cher an die eige­nen Mit­glie­der kom­mu­ni­zie­ren. Aber wir müs­sen auch trans­pa­rent machen, war­um wir uns in einer Fra­ge so und nicht anders ent­schie­den haben. Denn Infor­ma­tio­nen über die­sen Abwä­gungs­pro­zess fin­det man kaum im Inter­net. Nach außen brau­chen wir agil auf­ge­stell­te Bun­des- und Lan­des­ge­schäfts­stel­len, die Medi­en­trends schnell ent­de­cken. Wir brau­chen fes­te Bezie­hun­gen in die Netz­ge­mein­de, damit wir dort auch unse­re The­men plat­zie­ren kön­nen. Das erfor­dert eine pro­fes­sio­nel­le­re Medi­en­or­ga­ni­sa­ti­on. Aber das ist tech­nisch alles kein Hexenwerk.

Drit­tens: Wir haben uns zu sehr mit uns selbst beschäf­tigt, anstatt mit dem Lösen von Pro­ble­men. Seit Jah­ren dis­ku­tie­ren wir in der CDU dar­über, ob wir zu weit nach links gerutscht sind und des­halb wie­der mehr nach rechts rücken soll­ten. Die­se Rechts-Links-Debat­te ist etwas für Polit­aka­de­mi­ker und dar­über hin­aus aus der Zeit gefal­len. Die Bür­ger sind da deut­lich prag­ma­ti­scher. Sie erwar­ten, dass die Din­ge gelöst wer­den. Sie sind in die­sem Anspruchs­den­ken „kon­se­quen­ter“ und for­dern­der gewor­den. Wir wer­den geprüft, ob das, was wir vor­her ver­spre­chen, auch wirk­lich ein­ge­löst wird. Ändert sich gefühlt nichts, dann haben wir ver­sagt und wer­den knall­hart aus­ge­tauscht. So ist Poli­tik und Demo­kra­tie auch gedacht. Der Unter­schied ist nur, dass Feh­ler und Ver­sa­gen heut­zu­ta­ge viel leich­ter auf­zu­de­cken und zu doku­men­tie­ren sind als frü­her. Des­halb müs­sen wir ler­nen zu lie­fern, was wir ver­spre­chen. Nur auf die­sem Wege blei­ben wir auch in Zukunft eine Volkspartei.

 

Kai Whit­taker

ist seit 2013 Mit­glied des Deut­schen Bun­des­ta­ges. Er ist Obmann der CDU/C­SU-Frak­ti­on im Par­la­men­ta­ri­schen Bei­rat für nach­hal­ti­ge Ent­wick­lung. Außer­dem ist er seit 2013 ordent­li­ches Mit­glied im Aus­schuss für Arbeit und Sozia­les. Dort ist er Exper­te für die The­men Hartz IV und Arbei­ten 4.0.