Wie die NATO auf den Aufstieg Chinas reagieren sollte
von Markus Kaim und Angela Stanzel
Chinas weltpolitischer Aufstieg stellt andere Staaten und internationale Organisationen vor neue Herausforderungen, da er regional wie global etablierte Machtverhältnisse erschüttert und weltanschauliche Alternativen zu westlichen Ordnungsvorstellungen stärkt. Auch unter den NATO-Mitgliedern besteht ein zunehmender Konsens darin, sich mit den von China ausgehenden Herausforderungen beschäftigen zu müssen.
Dies ist für die nordatlantische Allianz mit Blick auf die russische Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 nunmehr deutlicher und dringlicher geworden. Denn mit diesem Krieg hat auch eine Zeit großer Unsicherheit in Pekings Außenpolitik begonnen. China, eines der mächtigsten Länder der Welt, spielt nicht die konstruktive Rolle, die seinem Einfluss angemessen wäre und die sich der Westen erhofft. Chinas Politik im Ukraine-Krieg stellt die NATO-Mitglieder vor große Herausforderungen. Zum einen, da die chinesischen Führer es vorziehen, die Verantwortung für den Krieg bei den Vereinigten Staaten zu verorten, und sich nach Kräften bemühen, einen Keil zwischen Europa und die USA zu treiben. Zum anderen befeuert die russische Invasion auch die Debatte innerhalb der europäischen Eliten zur Frage der potentiellen Bereitschaft Chinas, Konflikte mit den USA und der westlichen Welt insgesamt in Kauf zu nehmen, um die eigenen Ziele umzusetzen. Dies würde fundamentale Konsequenzen für die Rolle Europas in der internationalen Politik nach sich ziehen.
Kehrtwende der NATO
Die NATO widmete sich in ihrer Londoner Erklärung von 2019 erstmals der Volksrepublik und erkannte an, „dass Chinas wachsender Einfluss und die internationale Politik sowohl Chancen als auch Herausforderungen bieten, die wir als Allianz gemeinsam angehen müssen.“[1] Kurz vor dem NATO-Gipfel am 14. Juni 2021 sagte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg dann, die NATO-Mitgliedstaaten müssten ihre gemeinsame Politik gegenüber einem zunehmend aggressiveren China stärken.[2]
Damit vollzieht die Allianz endgültig eine Kehrtwende. Schließlich haben die Staats- und Regierungschefs der NATO der sicherheitspolitischen Bedeutung der Volksrepublik China erst vergleichsweise spät Aufmerksamkeit geschenkt. Für lange Zeit dominierte eine Perspektive, der zufolge die Allianz und Peking eine Reihe von gemeinsamen Interessen in der internationalen Politik verfolgen, so etwa in den Bereichen Krisenmanagement, Pirateriebekämpfung und Einhegung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen. Letztlich aber blieben der Umfang der Zusammenarbeit und die Zahl hochrangiger diplomatischer Kontakte begrenzt, weil sich die NATO als euro-atlantische Sicherheitsorganisation begreift, die Entwicklungen im indopazifischen Raum nur am Rande betreffen.[3] Erst der weltpolitische Aufstieg Chinas in den letzten Jahren hat eine andere Wahrnehmung des Landes ausgelöst und bewirkt, dass Pekings Außenpolitik inzwischen auf der Agenda des Bündnisses steht.
Vor diesem Hintergrund war der Brüsseler Gipfel der NATO am 14. Juni 2021 besonders bemerkenswert, und zwar aus zwei Gründen: Präsident Bidens erstmalige Teilnahme an dem Treffen signalisierte, dass die Vereinigten Staaten nach der spalterischen, bündniskritischen Rhetorik der Trump-Jahre wieder eine aktivere Rolle bei der Gestaltung und Nutzung des Bündnisses – auch für ihre China-Politik – spielen wollen. Zweitens bezeichnete das Gipfel-Kommuniqué China in ungewöhnlicher Offenheit als destabilisierende Kraft und systemische Herausforderung, deren Agieren die regelbasierte internationale Ordnung bedrohe.
Obwohl die Erklärung vermied, China als direkte Bedrohung für das Bündnis darzustellen, ließ sie doch erkennen, dass unter den NATO-Mitgliedern ein zunehmender Konsens darin besteht, sich mit den von der Volksrepublik ausgehenden Herausforderungen beschäftigen zu müssen. Schließlich, konstatierte Stoltenberg im März 2021, sei nicht die NATO näher an China herangerückt, sondern China an die NATO durch seine Aktivitäten in der Arktis und in Afrika, durch Investitionen in kritische Infrastruktur in Europa sowie durch Aktivitäten im Cyber- und Informationsraum.[4] Das neue strategische Konzept, das im Juni 2022 vorgelegt werden wird, steht vor der Aufgabe, diesen Konsens in kohärente und angemessene Schritte umzusetzen.
Unterschiedliche Prioritäten
Ob und wie die NATO die Herausforderung China angehen sollte, ist in ihren Reihen strittig. Die Mitglieder bewerten diese Herausforderung graduell wie prinzipiell unterschiedlich. Es sind vor allem die USA, die sich bei der Austragung ihres systemischen Konflikts mit China die NATO zunutze machen möchten. Andere geben der Bedrohung durch Russlands revisionistische Außenpolitik Vorrang und fühlen sich durch Moskaus Angriff auf die Ukraine darin bestätigt, wieder andere wollen die Gefährdung durch terroristische Gruppierungen und Cyberangriffe in den Mittelpunkt der NATO-Planungen stellen.[5] Die Perspektiven hinsichtlich China sind also sehr verschieden, und die sicherheitspolitische Sicht ist nur eine von vielen.
Politisch nachvollziehbar ist, dass die NATO-Mitglieder versuchen, die genannten Sicherheitsbedenken mit ihren jeweiligen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen zu China in Einklang zu bringen. Das ist insbesondere für die EU und für Deutschland eine schwierige Aufgabe. Dementsprechend vieltönig klangen die Staats- und Regierungschefs in Brüssel: Im Kontext des Gipfels vertrat die damalige deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel eine weichere Linie gegenüber China und erklärte, dass „vor allem Russland die größte Herausforderung“ für die NATO und „China in vielen Fragen ein Rivale und gleichzeitig in vielen Fragen ein Partner“ sei.[6] Der französische Präsident Emmanuel Macron stellte derweil die Frage, ob die NATO überhaupt das richtige Format sei, um die Art von Herausforderungen zu bewältigen, die von China ausgehen. Er erklärte, dass „die NATO eine nordatlantische Organisation ist, China nichts mit dem Nordatlantik zu tun hat“ und „wir unsere Beziehung zu China nicht einseitig betrachten sollten – sie ist viel größer als nur das Militär.“[7]
Die Besorgnis der NATO über Chinas wachsende Fähigkeiten der Machtprojektion und Einflussnahme ist nicht neu. Das Kommuniqué des Gipfels der Staats- und Regierungschefs baut auf früheren Erklärungen von Generalsekretär Jens Stoltenberg sowie auf dem erwähnten Bericht der NATO-Reflexionsgruppe 2030 aus dem Jahr 2020 auf. Sowohl die Abschlusserklärung als auch der Bericht listen die diversen Herausforderungen auf, die China nach Ansicht der Mitgliedstaaten für das Bündnis darstellt. Diese reichen von den geopolitischen Herausforderungen durch Russland und China, Pekings Einsatz von wirtschaftlichem Zwang und aggressiver Diplomatie, der Gefährdung der Fähigkeit der NATO, kollektive Verteidigung zu organisieren und kritische Infrastrukturen zu schützen, über Chinas militärische Modernisierung und die Ausweitung seines Nukleararsenals bis hin zu seiner technologischen Entwicklung.[8]
Dimensionen der chinesischen Herausforderung
Dass Chinas Aufstieg andere Staaten und internationale Organisationen vor neue Herausforderungen stellt, da er regional wie global etablierte Machtverhältnisse erschüttert und weltanschauliche Alternativen zu westlichen Ordnungsvorstellungen stärkt, ist an sich nichts Neues. Interessant ist, wie jeder einzelne Akteur in der internationalen Politik sich je nach spezifischem Aufgabengebiet, innerer Verfasstheit und unterschiedlicher Betroffenheit darauf einstellt. Der NATO, die sich aus Ländern Nordamerikas und Europas zusammensetzt, und ihren Mitgliedern könnten mehrere Aspekte von Chinas Verhalten zusetzen.
Da sind erstens Pekings Versuche, chinesische Technologieunternehmen in die digitale Infrastruktur westlicher Länder zu integrieren und so Einfluss auf diese zu nehmen. Dies ist besonders relevant für die anhaltende Debatte in Europa über die drahtlose Technologie der fünften Generation (5G).
Ein zweites Thema sind Chinas steigende Investitionen in kritische Infrastrukturen Europas. Neben Investitionen etwa in Elektrizitätsnetze, 5G-Netzwerke oder Smart-City-Projekte zeigen chinesische Staatsunternehmen ein hohes Interesse an Häfen – und dies ausgeprägt in europäischen NATO-Staaten. Offen ist, ob die NATO-Länder sich auf die Nutzung dieser Häfen verlassen können, sollte sich die Allianz Europa verteidigen müssen. Es ist zumindest nicht selbstverständlich, dass die chinesischen Eigentümer ihr erlauben werden, Schiffe in diesen Häfen aufzutanken, zu versorgen oder zu reparieren. Die europäischen NATO-Partner sind sich dieser potenziellen Beschränkung zunehmend bewusst.
Drittens haben chinesische Cyberangriffe auf europäische und amerikanische Firmen sowie andere Formen militärtechnischer Spionage massiv zugenommen. Laut dem Bericht 2020 des deutschen Verfassungsschutzes demonstrierten in den vergangenen Jahren „chinesische Cyberakteure eine beachtliche technologische Weiterentwicklung mit deutlichem Schwerpunkt auf die Verschleierung ihrer Angriffe. Hierbei besteht eine deutliche Kongruenz der Auswahl der Opfer in Wirtschaft und Politik mit den politischen und wirtschaftlichen Zielsetzungen der chinesischen Regierung“. [9]
Für weitere Bedenken, und zwar im engsten sicherheitspolitischen Sinne, sorgt viertens die chinesische-russische Zusammenarbeit – vor allem die militärische Zusammenarbeit der beiden Staaten. Angesichts der russischen Invasion in der Ukraine steht gerade diese Nähe zwischen China und Russland im Fokus der NATO. Bisher war der Umfang der russisch-chinesischen militärischen Zusammenarbeit noch sehr begrenzt. Im Jahr 2015 schlossen sich drei Schiffe der chinesischen Marine dem russischen Flottenverband im östlichen Mittelmeer für eine fünftägige Marineübung an – die erste Kooperation dieser Art von China und Russland. 2017 entsandte China im Rahmen einer achttägigen Übung einen Zerstörer, eine Fregatte und ein Versorgungsschiff in die russische Exklave Kaliningrad. In der Ostsee war dies die erste solche Militärübung und ist bislang die einzige geblieben. Ebenfalls noch überschaubar ist die Zusammenarbeit bei den Landstreitkräften: Im Jahr 2018 erregte Chinas Teilnahme an Russlands groß angelegter Militärübung Wostok-18 zwar erhebliche mediale Aufmerksamkeit, doch stellte China nicht mehr als 3.000 der 300.000 Soldaten, die an dem Manöver teilnahmen. Außerdem beschränkte sich Chinas militärische Präsenz während der Übung auf die Regionen östlich des Baikalsees.
Gleichwohl ist eine wachsende Interessenkonvergenz und strategische Koordination zwischen China und Russland nicht zu übersehen – vermehrt auch in Europa. Dies trifft nicht nur auf die militärische und militärtechnische Zusammenarbeit zu, sondern auch auf die Rohstoffförderung in der Arktis, den Ausbau von Internetzensur, die 5G-Netz-Entwicklung (für die Russland Huawei als vertrauenswürdigen Anbieter akzeptiert hat) sowie auf Dual-Use-Technologien wie Weltraumsysteme, Satellitennavigation, Softwareentwicklung und unbemannte Systeme. Russland und China öffnen ihre strategische Kooperation zudem vermehrt für Drittländer, so etwa den Iran. So fand Ende 2019 erstmals eine trilaterale russisch-chinesisch-iranische Marineübung im Indischen Ozean statt.
Chinas Balance im Ukraine-Krieg
Der chinesische Wissenschaftler Yan Xuetong sprach jüngst in einem Artikel davon, wie sehr der Krieg in der Ukraine den chinesischen Interessen schade; nicht nur wirtschaftlich, sondern auch außenpolitisch. Denn die Weigerung Pekings, Russland zu verurteilen, belaste Chinas außenpolitische Beziehungen dauerhaft.[10] Innenpolitisch verstärke der andauernde Krieg zudem die politische Polarisierung in der Gesellschaft („Pro- und Anti-Russland-Lager“). Dennoch werde China außenpolitisch die Balance im Ukraine-Krieg und den Beziehungen zu Russland fortsetzen, denn Peking wolle unnötige Provokationen in den chinesischen Beziehungen mit beiden rivalisierenden Mächten, den USA und Russland, vermeiden. Peking werde die Invasion weder öffentlich verurteilen (und sich etwa bei Abstimmungen in der UN-Generalversammlung enthalten), noch werde die chinesische Führung den Krieg offensiv unterstützen. Nur eines könne den chinesischen Mittelweg ändern und China auf die Seite Russlands drängen, laut Yan, nämlich „wenn die Vereinigten Staaten eine taiwanesische Unabhängigkeitserklärung militärisch unterstützen würden“. [11]
China unterstützt den Kreml nicht militärisch, hält aber die Geschäftsbeziehungen mit Russland aufrecht. Eine Annäherung an die Position der USA im Ukraine-Krieg dürfte derweil deshalb unwahrscheinlich sein, da aus chinesischer Sicht auch eine Verurteilung des Krieges die chinesisch-amerikanischen Beziehungen nicht nennenswert verbessern würden und man daher nichts zu gewinnen hat. Die Eindämmungspolitik gegenüber China werde Washington sicherlich nicht aufgegeben, so Yan Xuetong.[12] Entsprechend verschärft hat sich die chinesische Rhetorik im Verlauf des Krieges gegenüber Washington. So haben die USA und NATO in der chinesischen Rhetorik die russische Invasion in der Ukraine nicht nur zu verantworten, sondern sie würden zusätzlich Öl ins Feuer gießen und den Krieg bewusst aufrecht halten, um Russland (und auch China) zu schwächen.
Dies passt ins dominante chinesische Narrativ, das mit Vorliebe den Niedergang der amerikanischen Hegemonie thematisiert und diesen „Befund“ zum Dreh- und Angelpunkt der eigenen Außenpolitik macht. Im Kontext des globalen Systemwettbewerbs benutzen die USA, in der chinesischen Lesart, überdies die NATO als Instrument, um die EU zu dominieren. Diesem Narrativ zufolge wollten die USA die Systemkonfrontation mit der Volksrepublik verschärfen und die EU und andere Verbündete gegen China aufbringen.
Die Grenzen der NATO
Vorstöße der europäischen NATO-Staaten in den indopazifischen Raum werden vor allem von Beobachtern und Autoren befürwortet, die nach einer (militärischen) China-Strategie der NATO-Allianz rufen. Europa sind jedoch militärisch enge Grenzen gesetzt. So werden die europäischen NATO-Mitglieder mit Ausnahme von Großbritannien und Frankreich keine gewichtige militärische Rolle im indopazifischen Raum spielen können – nicht, weil sie dessen politische Bedeutung nicht anerkennen wollen, sondern vor allem weil sie nicht in der Lage sind, den amerikanischen Verbündeten wirksame militärische Unterstützung zu bieten.
Chinas militärischer Aufstieg im Indopazifik ist zunächst auch keine direkte militärische Bedrohung für die NATO und Asien ist nicht Teil des geographischen Einflussgebiets der Allianz. Dies begrenzt die Ziele der USA, die NATO-Mitglieder stärker sicherheitspolitisch in Asien einzubinden. Nicht einmal Chinas Vorrücken in die europäische Peripherie, insbesondere im militärischen Schulterschluss mit Russland, stellt eine unmittelbare Bedrohung dar.
Neben der angehenden militärischen Zusammenarbeit von Russland und China beunruhigen vielmehr die wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen, die sich aus Pekings Vorgehen im euro-atlantischen Raum ergeben. Chinas Investitionen in Häfen und andere Infrastrukturen gehen einher mit dem Streben, westliche Wirtschaftsprozesse zu beeinflussen. Chinesische Investitionen sollen ein Einflusspotenzial aufbauen, auf das sich zu einem späteren Zeitpunkt zurückgreifen lässt und das in der Zwischenzeit die demokratischen politischen Systeme anfälliger Nationen untergraben kann.
Dies erfordert vor allem eine wirtschaftliche oder politische Reaktion – wofür die NATO nicht gut gerüstet ist. Die Allianz sollte vorsichtig sein, etwas Anderes zu suggerieren und China so ungewollt zu einer militärischen Gefahr für den euro-atlantischen Raum zu überhöhen. Einzelne NATO-Mitgliedstaaten und vor allem die EU mit ihren jeweiligen politischen Kompetenzen verfügen über mehr Instrumente, um mit einem außenpolitisch ambitionierten China umzugehen, als die NATO als Institution. Bis China tatsächlich eine militärische Bedrohung im Nordatlantikraum darstellen könnte, vermag die NATO als Institution, die zum Zweck der regionalen kollektiven Verteidigung geschaffen wurde, eine nur begrenzte, dennoch nicht unwichtige Rolle bei der Bewältigung der Pekinger Herausforderung zu spielen.
Vorschläge für eine China-Agenda der NATO
Die NATO sollte (1) ihre eigenen Möglichkeiten beim Umgang mit den nichtmilitärischen Bedrohungen seitens China realistisch einschätzen. Es geht nicht darum, ein alle Aktivitäten der Allianz überwölbendes, neues Handlungsparadigma für die kommenden Jahre zu definieren. Vielmehr sollte die NATO für sich einen Platz innerhalb des komplexen Gefüges euro-atlantischer Institutionen definieren, sodass mögliche Aktivitäten des Bündnisses funktional Sinn ergeben, entsprechende Planungen anderer Organisationen aber nicht dupliziert werden. Das sollte ihre Mitgliedstaaten ermutigen, mehr außerhalb des NATO-Rahmens zu unternehmen. Zwar müssten sich die politischen Entscheidungsträger der Mitgliedstaaten weiterhin auf eine robuste konventionelle und nukleare Abschreckung durch die Allianz verlassen können, doch über die politischen und wirtschaftlichen Instrumente, um den von China ausgehenden wirtschaftlichen und politischen Risiken zu begegnen, verfügen vornehmlich die nationalen Hauptstädte und in einigen Fällen die EU.[13]
Die Allianz sollte sich (2) weder verzetteln noch ablenken lassen, sondern die existenten sicherheitspolitischen Herausforderungen klar priorisieren. Für die NATO bleibt bis auf weiteres, allein aufgrund der geografischen Nähe, Russlands aggressive und revisionistische Außenpolitik die direkteste Bedrohung.[14] Die militärische Herausforderung durch Moskau entspricht genau einer jener Aufgaben, für die man das Bündnis vor über 70 Jahren geschaffen und seine Instrumente entwickelt hat. Die NATO sollte die russisch-chinesische militärische Zusammenarbeit durchaus aufmerksam verfolgen, aber kein Missverständnis darüber aufkommen lassen, dass Russland die größere Wachsamkeit verlangt.[15] Alles andere wäre für eine Vielzahl von Mitgliedern nicht akzeptabel, würde einen Keil in die Allianz treiben und somit die notwendige innere Geschlossenheit gefährden.
Gleiches gilt (3) für die chinesische Herausforderung – die NATO darf sich in dieser Frage nicht spalten lassen. In der NATO besteht bislang eine vorsichtige, nahezu formelhafte Einigkeit darin, welchen Part sie gegebenenfalls im Umgang mit Peking einnehmen sollte. Vieles jedoch bleibt im Vagen, existierende Differenzen werden mit diplomatischen Floskeln überspielt, hauptsächlich, weil niemand die „Wiederentdeckung“ der NATO durch die Regierung von Präsident Biden gefährden möchte. China steht nun während des Ukraine-Kriegs an der Seite Russlands und positioniert sich dabei nicht nur gegen die USA, sondern auch gegen das auf den Prinzipien der Freiheit, Gleichheit und individueller Selbstbestimmung fußende liberale Ordnungsmodell. Chinas stillschweigende Billigung der russischen Invasion in der Ukraine führt vor Augen, dass die systemische Rivalität zwischen China und den USA eines Tages zu einem ähnlichen Szenario im indo-pazifischen Raum (China-Taiwan) führen könnte. Die Reaktion, die Einigkeit und Härte des Westens gegenüber Russland, ist unzweifelhaft eine der Lehren, die China aus dieser Invasion ziehen wird. Es gilt daher immer zu unterstreichen, dass diese Dimension des Großmachtwettbewerbs nicht zwischen China und den Vereinigten Staaten besteht, sondern zwischen China und der transatlantischen Gemeinschaft, die durch gemeinsame Werte, Interessen und Geschichte verbunden ist. So wie die Einheit des Bündnisses angesichts der russischen Aggression von entscheidender Bedeutung ist, so sollte die NATO auch in der China-Frage eine Spaltung vermeiden.
Chinas Entwicklung als strategischer Akteur wird auch sicherstellen, dass die Allianz weiterhin ein nukleares Bündnis bleiben wird. Sie könnte (4) mittelfristig allerdings eine Anpassung der NATO-Nuklearstrategie erfordern. China ist eine Atommacht mit strategischer Reichweite. Im Sommer 2021 wurden Berichte bekannt, denen zufolge China mit dem Bau von mehr als 250-300 neuen Silos für Interkontinentalraketen begonnen hat – was auf eine bedeutende Erweiterung von Pekings nuklearen Fähigkeiten hinweisen könnte.[16] Solange die Länder des euro-atlantischen Raums von irgendeinem Punkt der Welt, Asien inklusive, einer atomaren Bedrohung ausgesetzt sind, wird die NATO ein nukleares Bündnis bleiben. Zugleich sollte man die Bestrebungen intensivieren, China in Rüstungskontroll- und Abrüstungsvereinbarungen einzubeziehen. So hat NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in seinem Gespräch mit dem chinesischen Außenminister am 27.09.2021 nicht nur grundsätzlich die Beziehungen zwischen der NATO und China erörtertet und den sich ausweitenden Dialog zwischen beiden Akteuren begrüßt. Stoltenberg forderte China daneben auf, sich in Bezug auf seine nuklearen Fähigkeiten und seine Doktrin sinnvoll am Dialog, an vertrauensbildenden Maßnahmen und an Transparenzmaßnahmen zu beteiligen.[17]
Angesichts der skizzierten internen Differenzen erscheint es fraglich, ob die NATO eine Militärstrategie eigens für China formulieren wird. Sie sollte aber (5) die Mitgliedstaaten ermuntern, ihre jeweiligen Strategiedokumente zum Thema China zu koordinieren. Denn für einige ihrer Mitglieder ist China ein wichtiger Treiber der Außen- und Sicherheitspolitik. Dies gilt insbesondere für die USA und in geringerem Maß für Kanada, Frankreich und Großbritannien. Militärische Übungen im Indopazifik und Operationen für freie Schifffahrt im Südchinesischen Meer sollten die Mitgliedstaaten auf multilateraler oder bilateraler Ebene koordinieren und dabei auch NATO-Partnerländer wie Australien, Finnland, Japan, Neuseeland, Schweden und Südkorea einbeziehen.[18]
Die NATO sollte außerdem (6) ihre Beziehungen zu bereits bestehenden Partnern im pazifischen Raum – Australien, Neuseeland, Südkorea und Japan – vertiefen. Die politisch-konsultative Dimension dieser Verbindungen sollte sie erweitern durch regelmäßigere und robustere militärische Übungen (insbesondere Luft‑, See- und Spezialkräfteübungen) und Operationen, darunter auch solche, die der Freiheit der Schifffahrt dienen. Derartige Unternehmungen unter der Flagge der NATO wären eine sinnvolle Ergänzung zu den amerikanischen See- und Luftübungen im Pazifik, an denen seit Langem auch europäische Verbündete teilnehmen. An früheren RIMPAC (Rim of the Pacific)-Übungen der USA waren beispielsweise Militärflugzeuge, Schiffe und Stäbe aus Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Kanada, den Niederlanden und Norwegen beteiligt.
Für eine optimierte Lagebildgewinnung und einen entsprechenden Informationsaustausch wäre es (7) ferner von Vorteil, im indopazifischen Raum ein Center of Excellence einzurichten und Offiziere ausgewählter Partnerstaaten in die Kommandostruktur des Bündnisses zu integrieren. Eine solche Initiative würde dazu beitragen, das Verständnis der Allianz für den indopazifischen Raum zu verbessern, ihre Präsenz in der Region zu institutionalisieren und die Partner mit den Aufgaben, Strukturen und Abläufen der NATO besser vertraut zu machen. Gegebenenfalls könnte man auch, um die Übungen und Operationen der NATO zu koordinieren, ein kleines militärisches Hauptquartier im indopazifischen Raum einrichten und zum Beispiel in das Center oder das Pazifikkommando der Vereinigten Staaten einbetten. Diese Maßnahme könnte ebenfalls zur Information der NATO über Entwicklungen in der Region beitragen und, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, die Zusammenarbeit mit China fördern.
In diesem Zusammenhang gilt es (8) die Form und die Themen des direkten Austausches mit China zu definieren. Ausgangspunkt ist, dass die Volksrepublik es anzustreben scheint, auf Dauer eine europäische Macht zu werden. Einige Vorschläge zu einem NATO-China-Dialog oder gar einem permanenten NATO-China-Rat sind vor diesem Hintergrund bereits unterbreitet worden. Auch Angela Merkel hat in ihrer Amtszeit als Bundeskanzlerin im Kontext des Brüsseler Gipfels dafür plädiert, China ein institutionalisiertes Dialogangebot zu machen. Dieses würde analog zum NATO-Russland-Rat gebildet werden, dessen Wurzeln bis ins Jahr 1997 zurückreichen. Damit würde die Realität von Chinas wachsendem Einflusses und zunehmender Reichweite anerkannt. Die Bündnismitglieder würden angespornt, sich mit den von China ausgehenden Herausforderungen koordiniert, ernsthaft und umfassend zu befassen. Es könnte ebenso dazu dienen, Möglichkeiten einer konstruktiven Zusammenarbeit mit China zu ermitteln und zu fördern, etwa bei der Bekämpfung von Piraterie. Noch erscheint dies verfrüht und angesichts der existierenden Spannungen unter den NATO-Partnern unpassend. Einstweilen wäre es verdienstvoll, die Koordinierung der chinapolitischen Strategiedebatten in der NATO und der EU in Gang zu bringen.[19]
Biographie
Fußnoten
[1] London Declaration. Issued by the Heads of State and Government participating in the meeting of the North Atlantic Council in London 04 December 2019, https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_171584.htm.
[2] Head of NATO says member states need to ’strengthen’ policy on China, CBC, 13.6.2021, https://www.cbc.ca/news/politics/stoltenberg-barton-china-nato-trump‑1.6063130.
[3] Vgl. für diese Phase Chacho, Tania M. (2014): Potential Partners in the Pacific? Mutual Interests and the Sino-NATO Relationship, The Journal of Contemporary China, 23 (87), 387–407.
[4] The Secretary General’s Annual Report 2020, NATO, 16.3.2021.
[5] Zu diesen unterschiedlichen Lagern innerhalb der NATO vgl. die Beiträge in: Dembinski, Matthias/Fehl, Caroline, Hrsg. (2021): Three Visions for NATO. Mapping National Debates on the Future of the Atlantic Alliance. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung.
[6] Pressestatement von Bundeskanzlerin Merkel zum NATO-Gipfel in Brüssel am 14. Juni 202, https://www.bundesregierung.de/breg-de/suche/pressestatement-von-bundeskanzlerin-merkel-zum-nato-gipfel-in-bruessel-am-14-juni-2021–1928838. Zur Haltung der Bundesregierung vgl. auch „Notwendigkeit einer NATO-China-Strategie“. Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der Abgeordneten Dr. Marcus Faber, Frank Müller-Rosentritt, Alexander Graf Lambsdorff, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP (BT-Drucksache 19/26322), Berlin 2021.
[7] Zitiert nach David M. Herszenhorn, Rym Momtaz: NATO leaders see rising threats from China, but not eye to eye with each other, Politico, 14.6.2021, https://www.politico.eu/article/nato-leaders-see-rising-threats-from-china-but-not-eye-to-eye-with-each-other/.
[8] Vgl. Nouwens, Meia/Legarda, Helena (2020): Chinas´s Rise as a Global Security Actor: Implications for NATO. London: MERICS/IISS (44–50).
[9] Ebd.
[10] Yan Xuetong, „China’s Ukraine Conundrum — Why the War Necessitates a Balancing Act”, Foreign Affairs, 2.5.2022, https://www.foreignaffairs.com/articles/china/2022–05-02/chinas-ukraine-conundrum.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Henrik Larsen: NATO Shouldn’t Try to Do Too Much on China. NATO’s China policy must focus on core business, The Diplomat, 16.7.2021, https://thediplomat.com/2021/07/nato-shouldnt-try-to-do-too-much-on-china/.
[14] Brauss, Heinrich (2020): Europas bedrohlicher Nachbar, Internationale Politik, 75 (2), 48–51.
[15] Maull, Hanns W. (2021): Der neue Blick. China gerät stärker in den Fokus des Nordatlantischen Bündnisses, Internationale Politik, 76 (5), 58–62; Sven Biscop: Biden, NATO and the EU: Who deals with China, and who with Russia?, Egmont Institute, 29.3.2021, https://www.egmontinstitute.be/biden-nato-and-the-eu-who-deals-with-china-and-who-with-russia/.
[16] Vgl. Bugos, Shannon/ Masterson, Julia (2021): New Chinese Missile Silo Fields Discovered, Arms Control Today, https://www.armscontrol.org/act/2021–09/news/new-chinese-missile-silo-fields-discovered; Tong Zhao: What’s Driving China’s Nuclear Buildup?, Carnegie Commentary, 5.8.2021, https://carnegieendowment.org/2021/08/05/what-s-driving-china-s-nuclear-buildup-pub-85106.
[17] NATO Secretary General meets virtually with China’s Foreign Minister Wang Yi, 27.9.2021, https://www.nato.int/cps/en/natohq/news_186940.htm
[18] Heisbourg, Francois (2020): NATO 4.0: The Atlantic Alliance and the Rise of China, Survival, 62 (2), 83—102.
[19] Riecke, Henning (2021): Der nahe Ferne Osten: Die NATO braucht mehr als nur ein strategisches Selbstgespräch über China. Berlin: Bundesakademie für Sicherheitspolitik.