Zur Rolle der WHO: Die Welt braucht ein starkes Immunsystem
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) steht von unterschiedlichen Seiten in der Kritik. Ein Großteil der Kritik geht fehl, denn die WHO ist das einzige “Immunsystem”, das die Welt vorzuweisen hat. Manche Teile der Kritik sind konstruktiv. Diese greift Andrew Ullmann auf und unterbreitet konkrete Vorschläge zur Finanzierung und Governance der Organisation.
Geopolitische Spannungen haben die diesjährige Weltgesundheitsversammlung im Mai überlagert. Inmitten des Streits zwischen den USA und China über die Schuldfrage bei der COVID-19 Pandemie wurde die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Ziel der Angriffe von US-Präsident Trump. Er beschuldigte China den Ausbruch der neuartigen Lungenkrankheit SARS-CoV‑2 anfänglich vertuscht und so die weltweite Ausbreitung des Erregers erst ermöglicht zu haben. Die WHO habe dabei als „PR-Agentur“ Chinas agiert. Ohnehin stehe die Organisation unter zu starkem Einfluss Chinas, was dazu geführt habe, dass die WHO falsch auf den Seuchenausbruch reagiert habe.
Tatsächlich hat Trump mit seiner Kritik nicht ganz unrecht. Die WHO hat Fehler gemacht. Niemand würde ihre Grenzen, Versäumnisse und Schwächen in der aktuellen Krisenbewältigung leugnen. Dennoch ist sie das einzige “Immunsystem”, das die Welt vorzuweisen hat. Dieses gerade jetzt aufgrund machtpolitischer Kämpfe zu schwächen wäre ein fataler Fehler! Denn nie zuvor waren die gesundheitlichen Herausforderungen globaler und der Bedarf an Multilateralismus dringender. Mehr denn je braucht die Weltgemeinschaft eine funktionierende internationale Institution für Gesundheit.
Die Finanzierungskrise schwächt das Immunsystem der Welt
Mit der Ankündigung die Zahlungen der Vereinigten Staaten an die WHO als Konsequenz seiner Unzufriedenheit mit ihrem Krisenmanagement einzustellen, hat Trump sich nicht nur selbst, sondern auch die Finanzierungsnot der Organisation ins Rampenlicht gestellt.
Der WHO fehlen die vorhersehbaren und flexiblen Mittel, um adäquat auf akute Notlagen zu reagieren und die notwendige Expertise bereitzustellen. Fast 80 Prozent des WHO-Haushalts sind freiwillig und zweckgebunden – ein wahrlich schlechtes Finanzierungsmodell. Es öffnet Tür und Tor für Geber, ob öffentlich oder privat, Einfluss auf die Arbeit der Organisation zu nehmen und ist für Krisensituationen absolut ungeeignet. Ein Beispiel hierfür ist die verzögerte und schlechte Reaktion der WHO auf die Ebola Epidemie 2014/2015 in Westafrika. Als Konsequenz daraus wurde für Notfälle zwar ein Fonds ins Leben gerufen, dieser leidet aber ebenfalls an einer chronischen Unterfinanzierung. Seit 2015 haben nur 23 Staaten in den Notfallfonds eingezahlt, wobei Deutschland ein Drittel der Mittel finanziert hat. Um eine nachhaltige Krisenfinanzierung sicherzustellen, muss ein Wiederauffüllungsmechanismus mit Mitteln aus der noch zu überarbeitenden Pandemic Emergency Financing Facility der Weltbankgruppe eingerichtet werden. Außerdem sollte der neu eingerichtete COVID-19 Solidaritätsfonds der WHO – und die damit verbundenen Kampagnenelemente (Crowdfunding etc.) – mittelfristig in den WHO-Notfallfonds übergehen.
Das ist aber nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein, wenn nicht auch die Finanzierung der WHO selbst auf eine solide Basis gestellt wird. Lediglich ein Fünftel des Budgets machen die obligatorischen Mitgliedsbeiträge aus, ursprünglich sollten es 51 Prozent sein. Ihr Anteil ist in den vergangenen Jahren fast stetig zurückgegangen. Ein Trend, der im gesamte UN-Entwicklungssystem zu erkennen ist. Um dem entgegenzuwirken wurde 2019 mit dem UN Funding Compact – ein Finanzierungspakt zwischen den Mitgliedstaaten und dem UN-Entwicklungssystem – vereinbart, wonach mindestens 30 Prozent der Zahlungen an UN-Organisationen im Entwicklungsbereich frei verwendbar sein sollen. Es ist unerlässlich, dass sich alle Mitgliedstaaten daran halten. Denn eine bessere Pandemieversicherung gibt es nicht.
Internationale Gesundheitsvorschriften aktualisieren
Die COVID-19 Pandemie hat nicht nur die Finanzierungskrise der WHO ins Rampenlicht gestellt, sondern auch die Schwächen unserer internationalen Instrumente und Regelwerke zur Vorbeugung, Überwachung und Bekämpfung von Gesundheitsgefahren. Vor dem Hintergrund der SARS-Epidemie 2003 wurden zwar die internationalen Gesundheitsvorschriften (IGV) überarbeitet und 2005 von den Mitgliedsstaaten der Weltgesundheitsorganisation verabschiedet. Sie sind aber heute in einem völlig neuen politischen und wirtschaftlichen Kontext nicht mehr ausreichend und müssen dringend aktualisiert und mit verbindlicher Rechtskraft ergänzt werden.
Ein zentrales Problem besteht darin, dass die WHO nur über einen begrenzten Einfluss verfügt. Sie ist institutionell nicht befugt, die IGV durchzusetzen und ihre Mitgliedsstaaten zur Verantwortung zu ziehen. So müssen die Mitgliedstaaten den Regeln nach die WHO schnell über jegliche Ausbrüche informieren, aber die UN-Agentur darf nicht ohne Erlaubnis der Länder Nachforschungen anstellen. Sie ist also auf Gedeih und Verderb auf die Kooperation der Mitgliedsstaaten angewiesen. Im Rahmen der WHO-Reform muss daher dringend eine “responsibility to report” eingeführt werden, welche die eigenverantwortliche Meldepflicht ebenso wie die wahrheitsgemäße Berichterstattung als völkerrechtlichen Grundsatz festschreibt. Dies würde die Stellung der WHO deutlich aufwerten.
Um das Regelwerk zum internationalen Gesundheitsschutz zu stärken braucht es zudem einen Streitbeilegungsmechanismus ähnlich wie wir ihn von der Welthandelsorganisation (WTO) kennen. Dieser soll Staaten ermöglichen Beschwerden einzureichen und zu verlangen, dass andere die Vorschriften einhalten, und es sollte eine Möglichkeit geben, diesen Streit zu schlichten. Die COVID-19 Pandemie verdeutlicht die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens. Viele Staaten haben die Empfehlungen der WHO schlichtweg ignoriert und gegen die IGV verstoßen, indem sie als Reaktion auf die weltweit steigenden Infektionszahlen Reisebeschränkungen erteilt und Grenzen geschlossen haben, obwohl laut internationaler Gesundheitsvorschriften Grenzmaßnahmen zur Eindämmung einer Pandemie den Reise- und Handelsverkehr möglichst nicht stören dürfen. Ohnehin können Beschränkungen die Ausbreitung eines Erregers nur verzögern, aber nicht aufhalten, denn Erreger kennen keine Grenzen.
Im Zuge der Einführung eines Streitbeilegungsverfahrens braucht es zudem einen unabhängigen Durchsetzungsmechanismus der Staaten bei Missachtung der internationalen Gesundheitsvorschriften zur Verantwortung zieht. Hierfür wäre die Einrichtung einer quasi-unabhängigen Agentur innerhalb der WHO-Struktur notwendig, die diese Aufgabe übernimmt und befugt ist, Sanktionen zu verhängen. Diese Agentur könnte als eine Art Gesundheitssicherheitsrat der WHO fungieren.
Welche WHO braucht die Welt?
Eine Pandemie ist eine globale Herausforderung. Um sie zu besiegen, braucht die Welt ein gutes Immunsystem. Sie braucht daher eine funktionierende WHO, die in der Lage ist, ihre Führungsrolle in der globalen Gesundheit wahrzunehmen.
Das erfordert allerdings mehr als eine Reform der Organisation. Es braucht eine grundlegende Transformation der multilateralen Zusammenarbeit in der globalen Gesundheit. Dazu müssen die Mitgliedsstaaten die Rolle der WHO als weltweit führende Institution für globale Gesundheit stärken und dazu bereit sein, einem multilateralen Ansatz in globalen Gesundheitsfragen Vorrang einzuräumen. Das bedeutet die technische Autorität der WHO uneingeschränkt anzuerkennen und ihre Finanzierung auf eine solide Basis zu stellen.
Die Welt braucht eine WHO, die frei ist von politischen Machtspielen und ihr Mandat, nämlich das öffentliche Gesundheitswesen weltweit zu koordinieren und die hierfür notwendigen Normen und Standards zu schaffen, gänzlich ausführen kann. Die Welt braucht aber auch eine WHO, die mit verstärkter Befugnis zur Durchsetzung ihrer Normen und Standards, Durchsetzungsmechanismen und Koordinierung globaler Maßnahmen ausgestattet ist. Nur so gelingt es, aktuellen und zukünftigen Gesundheitsherausforderungen Herr zu werden.
Prof. Dr. Andrew Ullmann
geb. 1963 in Los Angeles, ist Professor für Infektiologie an der Universität Würzburg, seit 2017 Bundestagsabgeordneter für die FDP.