Die Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Ingrid Pahl­mann sieht in der Recht­spre­chung des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zur Sui­zid­hil­fe für den Gesetz­ge­ber eine enor­me Her­aus­for­de­rung: einen ange­mes­se­nen Rechts­rah­men für selbst­be­stimm­tes Ster­ben zu schaf­fen. Sie hält an Ihrer Posi­ti­on aus 2015 fest, Ange­bo­te zur geschäfts­mä­ßi­gen Ster­be­hil­fe dürf­ten kei­ne nor­ma­len Behand­lungs­al­ter­na­ti­ven werden. 

Im Jahr 2015 war ich eine von 360 Abge­ord­ne­ten des Deut­schen Bun­des­ta­ges, die für die Straf­bar­keit der geschäfts­mä­ßi­gen För­de­rung der Selbst­tö­tung stimm­te. Wenn man dar­über hin­aus bedenkt, dass ich in mei­ner Hei­mat­stadt ehren­amt­li­che Vor­sit­zen­de des Hos­piz­ar­beit Gif­horn e. V. bin, wird schnell klar, dass mich das Urteil des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 26. Febru­ar 2020 vor einen enor­men Abwä­gungs­pro­zess stellt. Ja, es ist für mich nur schwer nach­voll­zieh­bar, dass die Ver­fas­sungs­hü­ter das Ver­bot für ver­fas­sungs­wid­rig hal­ten. Mit sei­nem gra­vie­ren­den Urteil stellt das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt nicht nur mich per­sön­lich vor dif­fi­zi­le Fra­gen, son­dern auch das gesam­te Hohe Haus. Und das nur weni­ge Jah­re nach einer umfas­sen­den Ori­en­tie­rungs­de­bat­te, nach meh­re­ren Grup­pen­an­trä­gen und einem am Ende doch deut­li­chen Votum (360 Ja-Stim­men, 233 Gegen­stim­men und neun Ent­hal­tun­gen) für die Straf­bar­keit der geschäfts­mä­ßi­gen Sui­zid­hil­fe. Jetzt gilt es, erneut eine brei­te und in die Tie­fe gehen­de Debat­te im Par­la­ment zu füh­ren dar­über, wie wir das Urteil aus Karls­ru­he umset­zen können.

Das Ver­bot der geschäfts­mä­ßi­gen Ster­be­hil­fe bleibt richtig

Zwar hal­te ich die Straf­frei­heit der frei gewähl­ten und eigen­ver­ant­wort­li­chen Selbst­tö­tung für rich­tig. Ich ver­such­te aber zu ver­hin­dern, dass Ange­bo­te zur geschäfts­mä­ßi­gen Ster­be­hil­fe als ganz nor­ma­le Behand­lungs­al­ter­na­ti­ven daher­kom­men. Ich woll­te nicht, dass assis­tier­ter Sui­zid als Dienst­leis­tung Men­schen dazu ver­lei­tet, sich das Wert­volls­te und Unwie­der­bring­ba­re zu neh­men – ihr eige­nes Leben. Aus mei­ner Sicht müs­sen wir um jeden Preis ver­hin­dern, dass sich vor allem Älte­re oder Schwer(st)kranke schlimms­ten­falls dazu gedrängt oder gezwun­gen sehen, ihren Ange­hö­ri­gen oder der Gesell­schaft ver­meint­lich einen Gefal­len zu tun und ein Ange­bot der geschäfts­mä­ßi­gen Sui­zid­hil­fe in Anspruch zu neh­men, um sie nicht wei­ter zu belas­ten. Sol­che Aus­wüch­se der Ster­be­hil­fe dür­fen wir mit Blick auf unser Grund­ge­setz und unse­re Gesell­schafts­ord­nung nicht zulas­sen. Die­sen Aspekt gilt es in dem gesam­ten Dis­kurs beson­ders im Auge zu behal­ten. Mit der Schaf­fung eines neu­en Straf­tat­be­stan­des im Straf­ge­setz­buch erhoff­te ich mir einen stär­ke­ren Schutz der Selbst­be­stim­mung und die Her­vor­he­bung des Grund­rechts auf Leben. Wich­tig war mir dabei, in beson­ders schwie­ri­gen Kon­flikt­si­tua­tio­nen die Sui­zid­hil­fe im Ein­zel­fall nicht zu kri­mi­na­li­sie­ren. Somit wur­de mit der Neu­fas­sung des Para­gra­phen 217 Straf­ge­setz­buch absicht­lich kein voll­stän­di­ges straf­be­wehr­tes Ver­bot der Bei­hil­fe zum Sui­zid ein­ge­führt. Fer­ner wur­de bei der Neu­re­ge­lung dar­auf geach­tet, dass die Teil­nah­me von Ange­hö­ri­gen am assis­tier­ten Sui­zid nicht straf­bar wird. Dies wur­de durch eine geson­der­te Rege­lung klar­ge­stellt. Im Kon­kre­ten sah der besag­te Para­graph 217 so aus:

㤠217

Geschäfts­mä­ßi­ge För­de­rung der Selbsttötung

(1) Wer in der Absicht, die Selbst­tö­tung eines ande­ren zu för­dern, die­sem hier­zu geschäfts­mä­ßig die Gele­gen­heit gewährt, ver­schafft oder ver­mit­telt, wird mit Frei­heits­stra­fe bis zu drei Jah­ren oder mit Geld­stra­fe bestraft.

(2) Als Teil­neh­mer bleibt straf­frei, wer selbst nicht geschäfts­mä­ßig han­delt und ent­we­der Ange­hö­ri­ger des in Absatz 1 genann­ten ande­ren ist oder die­sem nahesteht.“

Die­se Lösung war für mich der bes­te Weg, die­se hoch­sen­si­ble und die Grund­pfei­ler unse­rer Exis­tenz berüh­ren­de Fra­ge­stel­lung zu beant­wor­ten. Dann kam fünf Jah­re spä­ter das Urteil aus Karls­ru­he und erklär­te den oben zitier­ten Para­gra­phen für nichtig.

Das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt sieht das all­ge­mei­ne Per­son­lich­keits­recht verletzt

In sei­nem Urteil erklär­ten die Ver­fas­sungs­rich­ter die im Deut­schen Bun­des­tag errun­ge­ne Lösung für ver­fas­sungs­wid­rig. Inter­es­san­ter­wei­se bezie­hen sie sich in ihrer Argu­men­ta­ti­on auf die Selbst­be­stim­mung – genau wie ich bei mei­ner Unter­stüt­zung für das Ver­bot. Zwar erken­nen die Rich­ter – wie der Gesetz­ge­ber – die Gefah­ren der geschäfts­mä­ßi­gen Ster­be­hil­fe für die Auto­no­mie und die Selbst­be­stim­mung des Ein­zel­nen an, hal­ten den Grund­rechts­ein­griff den­noch für nicht ange­mes­sen und unver­hält­nis­mä­ßig. Aus ihrer Sicht hat der Gesetz­ge­ber den Ster­be­wunsch – und auch die Annah­me der Hil­fe Drit­ter – als Akt auto­no­mer Selbst­be­stim­mung zu respek­tie­ren. In dem von mir befür­wor­te­ten Ver­bot sehen die Rich­ter eine Ver­let­zung des all­ge­mei­nen Per­sön­lich­keits­rechts. Das Recht auf selbst­be­stimm­tes Ster­ben gren­zen die Ver­fas­sungs­rich­ter dabei nicht auf bestimm­te Lebens- oder Krank­heits­pha­sen ein. Sprich: Die geschäfts­mä­ßi­ge Ster­be­hil­fe bei­spiels­wei­se auf unheil­ba­re Krank­heits­zu­stän­de zu beschrän­ken, geht nicht. Viel­mehr tref­fe das Recht auf Selbst­be­stim­mung auf jede Pha­se mensch­li­cher Exis­tenz zu. Genau die­sen Punkt hal­te ich für beson­ders bri­sant. Erschwe­rend kommt hin­zu, dass nach Auf­fas­sung der Rich­ter die Ent­schei­dung, sein Leben zu been­den, kei­ner wei­te­ren Begrün­dung oder Recht­fer­ti­gung bedarf.
Die Ver­fas­sungs­hü­ter machen in ihrem Urteil aber auch deut­lich, dass der Gesetz­ge­ber von Ver­fas­sungs wegen nicht dar­an gehin­dert ist, die Ster­be­hil­fe zu regu­lie­ren. Vor die­ser schwie­ri­gen Auf­ga­be ste­hen wir jetzt.

Die Auto­no­mie des Ein­zel­nen und die Für­sor­ge­pflicht der Gesell­schaft in Ein­klang bringen

Selbst­ver­ständ­lich respek­tie­re ich die­ses Urteil, auch wenn es mei­nem per­sön­li­chen Ver­ständ­nis von Selbst­be­stim­mung zuwi­der­läuft. Für mich han­delt es sich um einen abso­lu­ten Abwä­gungs­pro­zess: Einer­seits sehe ich die Auto­no­mie des Ein­zel­nen, ande­rer­seits die Für­sor­ge­pflicht auf Sei­ten der Gesell­schaft. Bei­des muss aus­ge­wo­gen sein, bei­des muss sich nicht und darf sich nicht aus­schlie­ßen. Wir müs­sen zwin­gend das Spek­trum der Ster­be­wün­sche ins­ge­samt beden­ken, das betrifft nicht nur schwersterkrank­te Älte­re, son­dern eben auch jun­ge Men­schen. Des­halb erscheint mir eine ange­mes­se­ne Aus­ge­stal­tung der Ster­be­hil­fe, die allen Lebens­si­tua­tio­nen gerecht wird, auch so extrem schwer. Nach mei­ner Über­zeu­gung darf ein Sui­zid­wunsch nicht aus einer aku­ten Lage her­aus getrof­fen wer­den. Auch das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt zeigt die Mög­lich­keit auf, Auf­klä­rungs- und War­te­pflich­ten gesetz­lich fest­zu­schrei­ben. Dies ist in mei­nen Augen uner­läss­lich. Denn gera­de in der hos­piz­li­chen Arbeit beob­ach­ten wir oft­mals das Phä­no­men, dass bei­des, der Wunsch nach Ster­be­hil­fe und auch der Wunsch nach Wei­ter­le­ben, dicht bei­ein­an­der liegt. Ich will kei­nen pro­fes­sio­nel­len Sui­zid­ver­ein för­dern, wün­sche mir aber einen recht­si­che­ren Hand­lungs­rah­men für Ärz­tin­nen und Ärzte.

Vor einer abschlie­ßen­den Geset­zes­in­itia­ti­ve brau­chen wir zwin­gend eine umfang­rei­che Ori­en­tie­rungs­de­bat­te, weil uns das Ver­fas­sungs­ge­richt eine äußerst schwie­ri­ge Haus­auf­ga­be erteilt hat. Die­ser müs­sen wir uns nun als Deut­scher Bun­des­tag stellen.

Hos­piz- und Pal­lia­tiv­ver­sor­gung sowie die Sui­zid­prä­ven­ti­on in unse­rem Land mas­siv zu stärken

Ange­sichts der weit ver­brei­te­ten Ängs­te vor einem lan­gen, schmerz­vol­len Ster­be­pro­zess, davor, nicht opti­mal ver­sorgt zu wer­den oder den Ange­hö­ri­gen zur Last zu fal­len, hal­te ich es für unab­ding­bar, die Hos­piz- und Pal­lia­tiv­ver­sor­gung sowie die Sui­zid­prä­ven­ti­on in unse­rem Land mas­siv zu stär­ken und wei­ter aus­zu­bau­en. Dass dies dem Gesetz­ge­ber nicht ver­sagt ist, unter­strei­chen auch die Karls­ru­her Rich­ter in ihrem Urteil. Sie sehen gar eine sozi­al­po­li­ti­sche Ver­pflich­tung des Gesetz­ge­bers, Bedro­hun­gen für die Auto­no­mie und das Leben entgegenzutreten.

Wir müs­sen viel mehr und viel offe­ner dar­über reden, was uns ein wür­de­vol­les Ster­ben wert ist.

Da das Ster­ben jede und jeden Ein­zel­nen von uns betrifft, ist das The­ma Ster­be­hil­fe von hoher Rele­vanz für unse­re gesam­te Gesell­schaft. Des­we­gen brau­chen wir eine brei­te, gesell­schaft­li­che Debat­te. Eine Aus­ein­an­der­set­zung im Par­la­ment muss beglei­tet wer­den durch einen inten­si­ven Dis­kurs der All­ge­mein­heit. Ich ver­ste­he, dass es vie­len Men­schen schwer­fällt, an ihr eige­nes Lebens­en­de zu den­ken. Ver­drän­gen ist aber an die­ser Stel­le nicht hilf­reich. Wir müs­sen viel mehr und viel offe­ner dar­über reden, was uns ein wür­de­vol­les Ster­ben wert ist. Wir müs­sen uns Fol­gen­des vor Augen füh­ren: Zu einem guten Leben gehört ein gutes, selbst­be­stimm­tes Ende. Und da uns die­ses Ende in jedem Fall ereilt, soll­ten wir nicht län­ger das Ster­ben und den Tod tabui­sie­ren. Da ich in mei­ner Hei­mat in der Hos­piz­ar­beit tätig bin, weiß ich, wie, schwie­rig einer­seits das The­ma ist und wie essen­zi­ell ande­rer­seits die recht­zei­ti­ge Aus­ein­an­der­set­zung damit. Es ist auch die­se ehren­amt­li­che Tätig­keit, aus der her­aus ich den Wunsch nach wür­de­vol­lem Beglei­ten auf dem letz­ten Weg ohne Schmer­zen und einem Leben den indi­vi­du­el­len Wün­schen und Bedürf­nis­sen gemäß bis zum Ende nach vor­ne stel­le. Um es mit der Begrün­de­rin der moder­nen Hos­piz­be­we­gung, Cice­ly Saun­ders, aus­zu­drü­cken: „Sie sind bis zum letz­ten Augen­blick Ihres Lebens wich­tig, und wir wer­den alles tun, damit sie nicht nur in Frie­den ster­ben, son­dern auch bis zuletzt leben kön­nen.“ Das ist es, was wir als Gesell­schaft mit unse­rer Rechts­ord­nung und unse­rem Wer­te­ge­rüst jedem Men­schen ver­mit­teln sollten.

„Sie sind bis zum letz­ten Augen­blick Ihres Lebens wich­tig, und wir wer­den alles tun, damit sie nicht nur in Frie­den ster­ben, son­dern auch bis zuletzt leben können.“

 

Ingrid Pahl­mann

ist seit August 2019 erneut Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te der CDU. Die staat­lich geprüf­te länd­li­che Hau­wirt­schafts­lei­te­rin war vie­le Jah­re als Aus­bil­de­rin und im eige­nen land­wirt­schaft­li­chen Betrieb tätig. Sie ist ver­hei­ra­tet und hat drei erwach­se­ne Kinder.