Immer wie­der stel­len uns inter­na­tio­na­le Kri­sen vor gro­ße Her­aus­for­de­run­gen, das Ende der libe­ra­len Welt­ord­nung scheint gekom­men. Jetzt gilt es, nicht zu ver­za­gen. Mit Mut und Ent­schlos­sen­heit müs­sen wir die libe­ra­len Ord­nungs­prin­zi­pi­en ver­tre­ten. Vier Weg­mar­ken zu einem vor­wärts­ge­wand­ten Enga­ge­ment Deutsch­lands in der Welt.

Ein Mei­nungs­bei­trag der CIVIS-Redaktion.

Die Welt ist aus den Fugen gera­ten – mit jener Fest­stel­lung begin­nen die­ser Tage die meis­ten außen­po­li­ti­schen Grund­satz­re­den und nicht weni­ge welt­po­li­ti­sche Sach­bü­cher. Die The­se fin­det ein brei­tes Publi­kum. Sie kann schließ­lich kaum in Fra­ge gestellt wer­den. Die Finanz- und Wirt­schafts­kri­se, der Bre­x­it, die Ent­frem­dung der USA von vie­len eins­ti­gen Part­nern, zudem die als geschei­tert bewer­te­ten Inter­ven­tio­nen der ver­gan­ge­nen in Jahr­zehn­te in Afgha­ni­stan, im Irak, in Liby­en. Hin­zu kom­men der Kli­ma­wan­del, welt­wei­te Armut, Pan­de­mien und Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen. Die Lis­te an glo­ba­len Kri­sen und Pro­ble­men lie­ße sich belie­big fortführen.

Aus deut­scher Sicht wie­gen vor allem die durch Staats­zer­fäl­le im Nahen und Mitt­le­ren Osten aus­ge­lös­ten Flücht­lings­be­we­gun­gen, das völ­ker­rechts­wid­ri­ge Han­deln Russ­lands auf der Krim und in der Ost­ukrai­ne, die Unei­nig­kei­ten inner­halb der Euro­päi­schen Uni­on und der Aus­tritt Groß­bri­tan­ni­ens aus der EU, sowie die Zer­würf­nis­se in der trans­at­lan­ti­schen Part­ner­schaft schwer.

Bei all dem han­delt es sich nicht aus­schließ­lich um eine Häu­fung von Ein­zel­pro­ble­men. Sie bil­den nur die Sym­pto­me, ihre Ent­wick­lung ist tief­grün­di­ger. Und so bezeich­net das „aus den Fugen“ nicht nur eine Welt, die sich kon­ti­nu­ier­lich – mal schnel­ler, mal lang­sa­mer – ver­än­dert. Viel­mehr hat es einen Bruch gege­ben. Die alte Ord­nung ist ero­diert, und noch gibt es kein neu­es Ord­nungs­mo­dell. Das spürt man auch bei uns. Die deut­sche Eigen­ver­or­tung in der Welt fällt plötz­lich schwe­rer. Nach­hal­tig wer­den gewach­se­ne Erwar­tun­gen ent­täuscht: Wir mer­ken, dass wir nicht mehr gegen die Aus­wir­kun­gen inter­na­tio­na­ler Kri­sen immun sind. Wir wer­den Zeu­ge, wie auf euro­päi­schem Boden neue Gren­zen gezo­gen wer­den. Und wir beob­ach­ten, wie Han­dels­kon­flik­te unse­re wirt­schaft­li­che Stär­ke gefährden.

Dies mag zu dem Schluss füh­ren, dass die Besin­nung auf uns selbst uns am bes­ten schützt. Sieht man die bestehen­den innen­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen, gibt es durch­aus gute Grün­de dafür, sich zunächst auf deren Bewäl­ti­gung zu kon­zen­trie­ren. Doch mit den inne­ren Her­aus­for­de­run­gen im Vor­der­grund müs­sen auch die äuße­ren Ent­wick­lun­gen am Hori­zont im Blick behal­ten wer­den. Dafür sind vier Weg­mar­ken entscheidend:

Erken­nen. Die Ana­ly­se der ord­nungs­po­li­ti­schen Unsi­cher­heit fällt ver­hält­nis­mä­ßig leicht. Nicht durch­ge­setzt hat sich in wei­ten Tei­len der deut­schen Bevöl­ke­rung bis­her eine ande­re Erkennt­nis: Dass nur weni­ge Län­der in glei­cher Wei­se von der bis­he­ri­gen Ord­nung so pro­fi­tiert haben wie Deutsch­land. Wir sind Export­welt­meis­ter, in Frie­den geeint, von Freun­den umge­ben. Aus deut­scher Sicht wäre ein Fest­hal­ten an die­ser Ord­nung nur wün­schens­wert. Im Umkehr­schluss heißt das aber auch: Sobald jene Ord­nung nicht mehr funk­tio­niert oder aber schon gar nicht mehr exis­tiert, müs­sen wir uns – im eige­nen Inter­es­se – für eine neue Ord­nung einsetzen.

Mut fas­sen. Allein auf­grund der oben genann­ten Kon­flik­te könn­te man leicht in Alar­mis­mus ver­fal­len. Das ist jedoch weder begrün­det noch ver­nünf­tig. Ins­ge­samt leben wir in Deutsch­land schließ­lich immer noch in Frie­den und Wohl­stand. Damit es so bleibt, brau­chen wir eine vor­wärts­ge­wand­te Hal­tung gegen­über welt­po­li­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen. Dabei soll es sich nicht nur um Zweck­op­ti­mis­mus han­deln. Denn all­zu leicht über­se­hen wir die vie­len posi­ti­ven Ent­wick­lun­gen welt­weit: gestie­ge­ne Ein­kom­mens­ver­hält­nis­se, bes­se­re Gesund­heits­ver­sor­gung, stär­ke­re Ver­brei­tung der Demo­kra­tie sowie eine gesun­ke­ne Kin­der­sterb­lich­keits­ra­te. Dar­über hin­aus ist es stets leich­ter das Gesche­he­ne skep­tisch zu beur­tei­len, als über die vie­len mög­li­chen Kri­sen nach­zu­den­ken, die – der funk­tio­nie­ren­den Nor­men und Insti­tu­tio­nen sei Dank – ver­hin­dert wer­den konnten.

Part­ner fin­den. Die Euro­päi­sche Uni­on als supra­na­tio­na­ler Ver­bund besitzt welt­weit den größ­ten ord­nungs­po­li­ti­schen Erfah­rungs­schatz. Die­sen wirk­sam in die gan­ze Welt aus­strah­len zu kön­nen, setzt Gewiss­heit über den gemein­sa­men Wer­te­ka­non vor­aus. Es ist miss­lich, dass die­ser Kanon just in gegen­wär­ti­gen Zei­ten umstrit­te­ner denn je ist. Den­noch: Auch außer­halb der EU gibt es vehe­men­te Ord­nungs­po­li­ti­ker, etwa in Kana­da oder Japan. Eine Ver­tie­fung der Koope­ra­tio­nen mit die­sen Staa­ten – ob wirt­schaft­lich oder poli­tisch – wird sich lang­fris­tig für uns aus­zah­len. Dass die EU gera­de mit die­sen bei­den Staa­ten umfas­sen­de Wirt­schafts- und Han­dels­ab­kom­men aus­han­deln konn­te, ist eine gute Basis für wei­te­re Zusammenarbeit.

Nach­drück­lich auf­tre­ten. Deutsch­land muss eige­ne ord­nungs­po­li­ti­sche Ideen offen­siv ver­tre­ten. Es wird nicht aus­rei­chen, den ord­nungs- und geo­po­li­ti­schen Ent­wür­fen glo­ba­ler Akteu­re bloß mit Stück­werk und rein mode­rie­rend ent­ge­gen­zu­tre­ten. Ins­be­son­de­re Chi­na möch­te sich als öko­no­mi­sche und rechts­stif­ten­de Super­macht eta­blie­ren. Das setzt aus chi­ne­si­scher Sicht zunächst vor­aus, die west­li­che Prä­gung des Ord­nungs­sys­tems zu durch­bre­chen. Mul­ti­po­la­ri­tät ist dabei eine Durch­gangs­sta­ti­on zu chi­ne­si­scher Domi­nanz. West­li­che Kon­zep­te und Wer­te wer­den in schein­ba­rer Koope­ra­ti­ons­be­reit­schaft auf­ge­grif­fen. Das Land sam­melt dafür kon­ti­nu­ier­lich Ver­bün­de­te. Erst jüngst haben sich die BRICS-Staa­ten zu regel­ba­sier­ter Ord­nung und Mul­ti­po­la­ri­tät bekannt. Tat­säch­lich ver­tritt Chi­na jedoch im Hin­blick auf Rechts­staat­lich­keit und Men­schen­rech­te gänz­lich ande­re Kon­zep­te. Das Land hofft, dass die aus ihrer Sicht west­li­chen Kon­zep­te in den Müh­len der Mul­ti­po­la­ri­tät zer­mah­len wer­den, um sie anschlie­ßend end­gül­tig zu kapern und umzu­wid­men. Es soll­te Deutsch­land und sei­nen Part­nern nicht dar­um gehen, die­sen Pro­zess zu bekämp­fen. Den­noch muss man ihn ver­ste­hen, um die eige­nen Posi­tio­nen wirk­sam ver­tre­ten zu kön­nen. Des­we­gen muss auch die eige­ne Her­an­ge­hens­wei­se geprüft wer­den. Deutsch­land betreibt an vie­len Stel­len Real­po­li­tik. Wir müs­sen ehr­li­cher zu uns selbst sein: Men­schen­rechts­ver­stö­ße von Part­nern, Waf­fen­ex­por­te in Kri­sen­ge­bie­te, Völ­ker­rechts­ver­stö­ße von Ver­bün­de­ten – vie­les ist mit unse­ren inne­ren Auf­fas­sun­gen schwer ver­ein­bar. Real­po­li­tik mag im Hin­blick auf begrenz­te Res­sour­cen und nöti­ge Alli­an­zen erfor­der­lich sein, um kurz­fris­ti­ge Erfol­ge zu erzie­len. Gleich­zei­tig müs­sen wir mit neu­em Elan klar­stel­len, was lang­fris­tig unse­re eigent­li­chen Wer­te und Zie­le sind. Die­se dif­fe­ren­zier­te und zugleich kraft­vol­le Rhe­to­rik muss Deutsch­land gegen­über der eige­nen Bevöl­ke­rung wie auf der inter­na­tio­na­len Büh­ne bedie­nen. Die Schwie­rig­keit die­ser Zwei­glei­sig­keit wird kom­mu­ni­ka­ti­ver Inno­va­tio­nen in der Diplo­ma­tie bedür­fen. Die häu­fig ein­ge­nom­me­ne Ver­mitt­ler­rol­le steht kla­ren deut­schen Posi­tio­nie­run­gen manch­mal im Weg. Deutsch­land soll­te gegen­über bestimm­ten Ant­ago­nis­ten zukünf­tig mit grö­ße­rer Nach­drück­lich­keit auftreten.