Die neue Welt(un)ordnung Deutschlands und Europas Außenpolitik und ihre neuen Herausforderungen
- Civis
- 17. März
- 4 Min. Lesezeit
von Lina Selle

Das Kredo „Wandel durch Handel“ war lange Zeit die inoffizielle Losung Deutschlands mit Blick auf sicherheitspolitische Herausforderungen. Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat jedoch offengelegt, dass das lange und naiv fahrlässige Festhalten deutscher Bundesregierungen an diesem Prinzip eher das Gegenteil von Frieden und demokratischem Fortschritt in Europa und darüber hinaus bewirkt hat. Die zahlreichen Warnungen unserer mittel- und osteuropäischen Freunde wurden ignoriert, auch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim 2014 führte nicht zu einem Umdenken. Deutschland begab sich in eine immer größer werdende energiepolitische Abhängigkeit zu einem autokratischen Staat. Die konkreten Konsequenzen dieses Handelns bekamen wir letztes Jahr durch Inflation und rasant ansteigende Heizkosten zu spüren. Und obwohl Deutschland vergleichsweise glimpflich durch den Winter kam, muss klar sein: Wir müssen autonomer agieren und dürfen uns nicht mehr so leichtfertig in Abhängigkeit von anderen Staaten begeben, insbesondere denjenigen, die nicht unsere demokratischen und rechtsstaatlichen Werte teilen.
Aufgrund dieses strategischen Scherbenhaufens ist die Bundesregierung nun in der Verantwortung, konsequenter gesamteuropäisch und strikt werteorientiert zu handeln. Sie muss sich für eine neue freiheitlich-demokratische Integrationslandschaft in Europa einsetzen. Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind zentrale Garanten unseres Wohlstandes. Und das gilt eben auch für Drittstaaten, womit wir beim Thema EU-Erweiterung wären.
Deutsche Bundesregierung sollte Erweiterung proaktiv gestalten
Die Bundesregierung muss ihrem eigenen Anspruch als proaktive Gestalterin eines demokratischen und rechtsstaatlichen Europas gerecht werden. Sie muss Anwältin für die EU-Erweiterung sein. Als größter Mitgliedstaat darf sich Deutschland nicht wegducken, sondern muss gemäß den europäischen Verträgen an einer Perspektive für alle europäischen Staaten arbeiten, die unsere Werte teilen.
Im Juni 2022 fällte der Europäische Rat eine Entscheidung, für die die Europäische Bewegung Deutschland schon seit März 2022 geworben hatte, die viele aber zu diesem Zeitpunkt noch als unrealistisch abtaten: Er erteilte der Ukraine und Moldau den Status der Beitrittskandidaten. Außerdem wurde Georgiens Beitritt an bestimmte Kriterien gebunden. Zweifelsfrei war dies ein guter und wichtiger Schritt, aber dabei darf es nicht bleiben. Denn die Ukraine braucht die konkrete Perspektive auf eine EU-Mitgliedschaft, ohne Abkürzung und unter Berücksichtigung der Kopenhagener Kriterien, damit neue Transformationsdynamiken in wirtschaftlicher und demokratischer Hinsicht initiiert werden können.
Auch der Beitrittsprozess mit den Westbalkanländern darf nicht länger verschleppt werden. Denn auch diese Länder sind von außen durch Russland und von innen durch zunehmenden Nationalismus bedroht und warten immer noch auf einen EU-Beitritt. Vor diesem Hintergrund ist es richtig und wichtig, dass die Mitgliedstaaten endlich die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien begonnen haben und zudem Bosnien-Herzegowina als Beitrittskandidat aufgenommen wurde. Ebenso positiv war die Gestalterrolle Deutschlands im letzten Jahr im Rahmen des Berliner Prozesses. Der Annäherungsprozess dieser Länder an die EU muss konsequent unterstützt werden. Mit Blick auf die kommenden Europawahlen sollte beispielsweise auch darüber diskutiert werden, dass die Beitrittskandidaten durch Beobachterinnen und Beobachter im Europaparlament (EP) repräsentiert sind. Ebenso sollten Heranführungshilfen für den Aufbau von demokratischen und rechtsstaatlichen Strukturen in diesen Ländern gestärkt werden.
Auch in die Kandidatenstaaten, in denen es erhebliche Defizite in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gibt, müssen Fortschritte erzielt werden. Gerade ein Blick auf die Türkei lohnt sich. Trotz Erdogans Erfolg hat die vergangene Wahl gezeigt, dass es durchaus starke demokratische Kräfte gibt. Diese politischen und gesellschaftlichen Kräfte müssen weiterhin durch die Aufrechterhaltung einer europäischen Perspektive gestützt werden. Gleichzeitig müssen Beitrittsverhandlungen ausgesetzt und Heranführungshilfen auch mal gestrichen werden, ohne dass demokratisch verfasste gesellschaftliche Kräfte finanzielle Nachteile tragen.
Strukturen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) reformieren
Eng verknüpft mit der Frage zur Neuordnung der Integrationslandschaft Europas ist die Notwendigkeit eines aktiven deutschen Gestaltungsanspruchs und reformierter Institutionen in der Europäischen Union (EU). Gerade in der Außen- und Sicherheitspolitik muss die Europäische Union in ihrer Handlungsfähigkeit und Reaktionsschnelligkeit gestärkt werden, wenn der europäische Kontinent nicht zum Spielball globaler Mächte werden will.
Die Konferenz zur Zukunft Europas hat für die EU 49 ermutigende Reformvorschläge vorgelegt, die eine konkrete Agenda vorgeben. Diese Reformen sollten unter Nutzung aller Optionen, beispielsweise der Nutzung von Passerelle-Klauseln, umgesetzt werden. Wichtig ist insbesondere die Reduzierung der Einstimmigkeitserfordernis im Rat für Auswärtige Angelegenheiten und der vermehrte Einsatz von qualifizierten Mehrheitsvoten. Ich empfinde das zu jederzeit geltende Veto-Recht in diesem Bereich als Ärgernis. Ich freue mich daher, dass sich die Bundesregierung im Mai 2023 mit gleichgesinnten Staaten zur Freundesgruppe zur Stärkung von Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik zusammengeschlossen hat.
Gleichzeitig sollte auch die parlamentarische Dimension der GASP und damit das Europaparlament (EP) gestärkt werden, um EU-Mitgliedstaaten entgegenzukommen, die um ihren Einfluss nach dem Veto-Wegfall fürchten. Denn letztlich ist das Parlament der Raum, in dem eine kollektive Willensbildung stattfindet. Wenn nationale Parlamente nicht mehr die Möglichkeit haben, über ihre Regierung „Stopp“ zu sagen, muss das EP diese Rolle einnehmen.
Umgang mit aufstrebenden Mächten, insbesondere China
Viertens muss Europa endlich geschlossen mit einer Stimme zu den aufstrebenden globalen Mächten sprechen. Zu Indien besteht hier eine Chance, da aktuell das EU-Indien-Handelsabkommen ausgehandelt wird. Zu China müssen wir uns klar werden, dass der chinesische Staatschef Xi Jinping einen klaren „Chinesischen Traum“ hat und kein demokratischer „Wandel durch Handel“ erfolgt ist, ebenso wenig wie in Russland. Die autokratischen Züge in China haben in den letzten drei Jahren weiter zugenommen. Jinping und sein Land sind auch keine neutralen Akteure im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine.
Allerdings sind die EU-China-Beziehungen „too big to fail“. Zu verflochten ist die wirtschaftliche Abhängigkeit, zu bedeutsam Chinas Rolle in der Bewältigung globaler gemeinsamer Herausforderungen wie dem Klimawandel, Biodiversitätsschwund und dem Erhalt einer regelbasierten internationalen Ordnung. Deshalb braucht es einen einheitlichen, langfristigen und konsistenten Plan zum Umgang mit China. Die Europäische Bewegung Deutschland fordert schon seit 2020 eine gemeinsame EU-Strategie. Daher ist es gut, dass die EU-Kommission die Initiative ergriffen und jüngst erste Vorschläge vorgelegt hat.
Grundsätzlich müssen wir im Sinne unserer eigenen Sicherheit unsere Abhängigkeiten reduzieren, um unseren Wohlstand langfristig zu sichern. Außerdem muss die Ampel-Koalition auf europäischer Ebene eine einheitliche China-Strategie vorantreiben. Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine muss uns eine Lehre sein. Eine Lehre, unsere Abhängigkeiten von Autokratien in der Welt drastisch zu reduzieren und für eine glaubwürdige EU-Außen- und Sicherheitspolitik einzutreten!
Deutschlands Sicherheit kann nur im weiten Bund europäischer Demokratien gestärkt werden und nicht durch Alleingänge mit Autokratien in der Wirtschafts- und Handelspolitik. Arbeiten wir also gemeinsam an einer europäischen Integrationslandschaft, die ihre Stärke aus ihren gemeinsamen Werten der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit zieht.
Lina Selle
ist seit 2018 die Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland. Hauptberuflich ist sie als Leiterin des Referats Europa in der Vertretung des Landes Nordrhein-Westfalen beim Bund tätig. 2014 wurde sie mit dem Preis „Frauen Europas – Deutschland“ ausgezeichnet.
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