Geschwindigkeit übertrumpft Perfektion
Sowohl die wirtschaftlichen Maßnahmen der Bundesregierung wie auch die Einschränkungen des wirtschaftlichen und öffentlichen Lebens müssten stetig nachjustiert werden. Nachbesserungen gehörten zur Krisenpolitik dazu. Durch kurzfristige Fehler, etwa die voreilige Aufhebung öffentlicher Einschränkungen, dürfe nicht der langfristige Erfolg bei der Bekämpfung der Pandemie riskiert werden. Die Politik treffe nach eigener Abwägung verantwortungsvolle Entscheidungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse. Von einem bevorstehenden Staatsversagen könne daher keine Rede sein. Marc-Michael Blum, promovierter Biochemiker und ehemaliger stellvertretender Bundesvorsitzender des RCDS, mit einer Replik auf Jörg Lindner.
Am 2. April erschien auf dem CIVIS-Blog ein Beitrag von Jörg Lindner mit dem Titel „Die Antwort auf Corona kann nicht nationale Armut sein“. Darin kritisiert Herr Lindner die deutsche Politik scharf für Ihre Maßnahmen zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie und vertritt die Meinung, nun von demokratisch nicht legitimierten Experten regiert zu werden. Er kritisiert die Maßnahmen zur Stützung der deutschen Wirtschaft und insbesondere des Mittelstands. Dies führt ihn dann zu der Forderung: „Die Zwangsmaßnahmen müssen spätestens nach Ostern beendet werden.“ Zudem müsse das derzeitige Handlungskonzept individualisiert und unser Gesundheitssystem bedarfsgerecht ausgebaut werden: „Jetzt sofort.“
Es besteht Nachbesserungsbedarf
Herrn Lindner hat recht: Bei den wirtschaftsstützenden Maßnahmen der Bundesregierung und der Bundesländer muss nachgesteuert werden. Zwar habe ich nicht die Verantwortung für mehrere tausend Mitarbeiter, sondern bin als Freiberufler einer dieser „Solo-Selbständigen“. Aber mit vorwiegend internationalen Kunden und der Notwendigkeit, bei diesen vor Ort zu sein, trifft die aktuelle Krise auch mich hart. Die Förderrichtlinien für uns „Einzelkämpfer“ sind meiner Meinung nach nachbesserungswürdig.
Im Grundsatz teile ich die Meinung, dass die Einschränkungen des öffentlichen Lebens gelockert werden müssen. An dieser Stelle folgt mein erstes großes „Aber“: Alle Beschränkungen ohne Weiteres am 20. April aufzuheben, wird die Anstrengungen und Opfer der letzten Wochen zunichte machen und mehr Schaden anrichten als verhindern.
„Flatten the Curve“ bleibt maßgebend
Wann müsste sich die Politik angesichts der humanitären/gesundheitlichen Lage Versagen vorwerfen lassen? Wir wollen und können ein Menschenleben nicht mit einem Preisschild versehen. Wir sollten auf jeden Fall vermeiden, an einen Punkt zu gelangen, an dem die Ärzte in den Krankenhäusern triagieren müssen, wenn es also nicht mehr möglich ist, allen Patienten die (überlebens-)notwendige Behandlung zukommen zu lassen.
Herr Lindner beruft sich darauf, dass in Düsseldorf nur 5% der Intensivbetten belegt seien. Bei der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) lassen sich die aktuellen Zahlen aufgeschlüsselt nach Bundesland und Krankenhaus einsehen. Hier kann man erkennen, dass aktuell zwar in der Tat noch ausreichend intensivmedizinische Kapazitäten vorhanden sind. Gleichzeitig wird aber auch ersichtlich, dass diese bei einer zunehmenden Dynamik des Infektionsgeschehens rasch an ihre Grenzen kommen würden. Wir sollten es, wenn möglich, nicht so weit kommen lassen wie in Teilen Italiens und Spaniens!
Das Problem mit SARS-CoV‑2 ist nicht nur, dass es hochinfektiös ist und sich bei engem sozialem Kontakt sehr effektiv verbreitet. Wir haben es auch mit einer hohen Dunkelziffer von Infizierten zu tun, die entweder keine oder nur schwache Erkältungssymptome aufweisen, den Virus aber dennoch verbreiten. Diese Personen würden sich nicht krank genug fühlen, um sich wie z.B. bei einer Influenza-Infektion ins Bett zu legen und damit weitgehend selbst zu isolieren. Stattdessen würden sie ihren normalen Tätigkeiten nachgehen und ihre Sozialkontakte wohl nur bedingt einschränken. Daher halte ich es für absolut notwendig die Kurve der Infektionen deutlich abzuflachen, bevor wir die einschränkenden Maßnahmen für unser tägliches Leben lockern.
Herr Lindner führt einige Länder an, die mit der Pandemie anders umgehen. Er nennt hier Schweden, Japan und Südkorea. Die Ausgangslage und Umstände in vielen dieser Länder dürfte so unterschiedlich sein, dass sich deren Lehren nicht ohne Weiteres übertragen lassen. Man denke nur an den frühzeitigen und flächendeckenden Einsatz von Tracing-Apps in Südkorea, die bei uns aus Datenschutzgründen stark umstritten sind. Umgekehrt gibt es auch eine Reihe von Ländern, die zunächst auch eine andere Strategie fahren wollten, dann aber eine Vollbremsung mit versuchter Kehrtwendung hingelegt haben, weil sie bemerkt haben, dass ihnen die Kontrolle über das Infektionsgeschehen völlig entgleitet: die Niederlande, Großbritannien und die USA.
Wenn wir Maßnahmen lockern wollen, dann wird dies schrittweise erfolgen müssen. Und man wird darüber debattieren müssen, welche Lockerungen aus gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Sicht am notwendigsten wären und dies abwägen mit den möglichen Auswirkungen auf das Infektionsgeschehen. Solange es keinen Impfstoff gibt, wird die Krankheit und der Virus nicht verschwinden und die Pandemie wird (wie andere auch) in Wellen durch die Bevölkerung ziehen. Das kann auch bedeuten, dass Maßnahmen wieder verschärft werden müssen.
Der Ausbau des Gesundheitssystems ist keine kurzfristige Aufgabe
Herr Lindner fordert den Ausbau des Gesundheitssystems und zwar: „jetzt sofort“. Das ist schön und gut, aber ganz so leicht ist es nicht. Bis vor Kurzem haben wir in Deutschland eine Diskussion darüber geführt, Überkapazitäten bei Krankenhausbetten abgebaut werden sollten und hier ein breites Einsparungspotential vorhanden wäre. Doch selbst wenn man die Kapazitäten im Gesundheitssystem ausbaut, werden die notwendigen Ärzte, Krankenschwestern und Pflegekräfte benötigt.
Während des Kalten Krieges betrieb die Bundeswehr die Reservelazarettorganisation, die im Verteidigungsfall die Versorgung von NATO-Soldaten sicherstellen sollte. Darüber könnte man auch im Bereich des Bevölkerungsschutzes nachdenken, aber das Problem bleibt das gleiche: Das Personal würde sich aus bestehendem zivilem medizinischem Personal rekrutieren. Und das befindet sich bereits im Einsatz. Aktuell hat die Bundeswehr übrigens eine beachtenswerte Zahl an Reservisten für die Unterstützung der Bundeswehrkrankenhäuser gewinnen können.
Am Ende bleibt die Frage, welche Mittel man zur Krisenvorsorge bereitstellen will – und zwar für einen Fall, der mit niedriger Wahrscheinlichkeit eintritt, aber weitreichende Konsequenzen hat. Ich gehe davon aus, dass die „Lessons learned“ hier einige Veränderungen bringen werden.
Experten beraten, Politik entscheidet
Herr Lindner betreibt ein Expertenbashing ohne Grund: Alle Maßnahmen in Deutschland wurden durch demokratisch legitimierte Gremien (Parlamente, Regierungen, Landräte) erlassen. Der Rechtsweg steht offen. Was bleibt Politiker bitte anderes, als sich auf Experten unterschiedlichster Art zu stützen? Vor allem dort, wo es eine klare Mehrheitsmeinung und einen etablierten Stand der Wissenschaft gibt? Der Politiker hat die Auswirkungen seiner Entscheidungen abzuwägen. In der aktuellen Lage tut er dies (wie alle anderen auch) auf der Grundlage der verfügbaren (aber sicher unvollständigen) Informationen und Daten. Ich gehe im Übrigen davon aus, dass Herr Lindner als Gesellschafter seines Unternehmens Entscheidungen nicht nur aus dem Bauch heraus trifft, sondern sich auch auf die Fachleute und Experten in seinem Unternehmen stützt, wo er über die notwendige Expertise selber nicht verfügt.
An Ende sollte klar sein, dass keine Regierung auf der Welt die absolut optimale Strategie zur Krisenbewältigung verfolgen wird. Dies ist aufgrund der Komplexität der Krise nicht möglich. Ein ständiges Nachjustieren mit Augenmaß gehört zum Konzept. Wie der Exekutivdirektor der Weltgesundheitsorganisation Michael Ryan sagt: “Perfection is the enemy of the good when it comes to emergency management. Speed trumps perfection. The greatest error is not to move. The greatest error is to be paralyzed by the fear of failure. If you need to be right before you move, you will never win.” Es ist klar, dass die Bundesregierung ihre Entscheidung nicht auf eindeutigen Prämissen basieren kann, wie Herr Lindner bemängelt – trotzdem muss sie zielstrebig handeln.
Für den Fall Deutschland kann ich daher bisher beim besten Willen kein vollständiges Versagen der Politik erkennen, wie es Herr Lindner konstatiert. Ja, es besteht Anlass zu Korrekturen, aber dies ist weit entfernt von Staatsversagen.
Die nächsten Monate
Wir brauchen daher in den nächsten Monaten vor allem Entwicklungen an der medizinischen Front: mehr und schnellere Testkapazitäten, einschließlich Antikörpertests, um herauszufinden wer eine Infektion bereits durchgemacht hat; Medikamente, die schwere Verlaufsformen abmildern und so die Sterblichkeit aber auch Verweildauer auf den Intensivstationen abmildern können (vor allem solche Medikamente, die bereits eine Zulassung für andere Indikationen haben, so dass eine Zulassung schnell erfolgen kann); und schließlich so bald wie irgend möglich: ein Impfstoff. Die wirtschaftlichen Anreize für die Unternehmen im Pharma- und Biotechsektor liegen klar auf der Hand. Für uns andere, ob Dienstleister oder im produzierenden Gewerbe, ob „solo“ oder im Großunternehmen, stellt sich die Herausforderung, dass es auch nach Lockerung der Beschränkungen kein „back to normal“ geben wird. Wir sind angehalten unsere Arbeit so zu organisieren, so dass das Infektionspotential in dem von uns verantworteten Bereich konsequent minimiert wird. Das bedeutet mehr als nur den Vorschriften des Gesundheitsamtes zu folgen.
Dr. Marc-Michael Blum
war von 2000 bis 2001 stellvertretender Bundesvorsitzender und Bundesschatzmeister des RCDS. Er studierte an der TU Braunschweig Chemie und promovierte an der Universität Frankfurt am Main im Fach Biochemie. Darüber hinaus besitzt er einen Master-Abschluss in War Studies am King’s Colle London und ist Reserveoffizier in der ABC-Abwehrtruppe der Bundeswehr. Bis September 2019 war er Leiter des Labors der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen (OPCW) in Den Haag und leitete in dieser Funktion auch das Team der OPCW zur Untersuchung des Skripal-Vorfalls in Salisbury 2018. Er ist selbständig tätig und berät Kunden im Bereich Abwehr von ABC-Gefahren und insbesondere der dazu notwendigen Laboranalytik. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Foto: Leere im Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Von Steven Lüdtke.