“Quo vadis, CDU?” – Impuls 2: Der Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­te Mat­thi­as Zim­mer fragt, war­um so vie­le Wäh­ler bei der Euro­pa­wahl die Grü­nen und nicht die CDU gewählt haben. Und er sagt: Wir sind kein rech­ter Kampf­ver­ein. Man müs­se Ant­wor­ten auf die Anlie­gen der jun­gen Genera­ti­on fin­den, den Sozi­al­staat zukunfts­fest machen und die Städ­te wie­der in den Blick rücken.

Das Ergeb­nis der Euro­pa­wahl 2019 zeigt eine fort­dau­ern­de Ner­vo­si­tät unse­rer poli­ti­schen Kul­tur. Dabei lie­gen die Wer­te für die rech­ten Par­tei­en im bzw. unter dem euro­päi­schen Durch­schnitt, die für die Grü­nen deut­lich über dem euro­päi­schen Durch­schnitt. In kei­nem ande­ren Land Euro­pas haben die Grü­nen so stark abge­schnit­ten. Des­we­gen muss für die CDU die ers­te Fra­ge sein: War­um haben so vie­le Wäh­ler nicht mehr die CDU, son­dern die Grü­nen gewählt?

Die Grü­nen sind eine bür­ger­li­che Par­tei – als „Bio­na­de­bour­geoi­sie“ habe ich sie ein­mal bezeich­net, weil die­ser Begriff die neue Idee der bür­ger­li­chen Mit­te als eines life­styles auf den Punkt bringt. Betrach­tet man die Wahl­er­geb­nis­se bei den Bun­des­tags­wah­len 2013 und 2017 und ver­gleicht man dies mit zwi­schen­zeit­li­chen Wahl­er­geb­nis­sen, fällt eines auf: Bei den Bun­des­tags­wah­len stan­den die Grü­nen in bei­den Wah­len unter 9%, in zwi­schen­zeit­li­chen Land­tags- und Euro­pa­wah­len schnit­ten sie deut­lich bes­ser, manch­mal aber auch deut­lich schlech­ter ab. Deut­lich bes­ser lie­fen die Euro­pa­wahl mit 20,5%; die LTW Hes­sen (2018) mit 19,8%; die LTW Bay­ern (2018) mit 17,6%; die LTW in Baden-Würt­tem­berg (2016) mit 30,3%; deut­li­che Abwei­chun­gen nach unten waren zu ver­zeich­nen in der LTW in Rhein­land-Pfalz (2016) mit 5,3% und Nord­rhein-West­fa­len (2017) mit 6,4%. Das bedeu­tet, wenn man regio­na­le Beson­der­hei­ten ein­mal abzieht: Die Grü­nen haben ein hoch vola­ti­les Wäh­ler­po­ten­ti­al, das man anspre­chen und zurück­ge­win­nen kann. Dazu wäre erforderlich:

- Nicht mehr nach rechts zu blin­ken und die Debat­ten um „kon­ser­va­tiv“ und „nach rechts rücken“ ein­deu­tig zu been­den. Wir sind eine Volks­par­tei der Mit­te und kein rech­ter Kampf­ver­ein. In den letz­ten Wochen und Mona­ten aber haben wir all­zu häu­fig den Ein­druck erweckt, wir wür­den nach rechts abbie­gen wol­len. Die ewi­gen Rück­tritts­for­de­run­gen von Fil­bin­gers Erben (Wer­te­uni­on) an die Kanz­le­rin waren hoch illoy­al gegen­über den Wahl­kämp­fen­den. Äuße­run­gen von hohen Funk­ti­ons­trä­gern haben den Ein­druck erweckt, uns gin­ge es wesent­lich dar­um, durch eine Annä­he­rung an rechts AfD-Wäh­ler zurück zu gewin­nen. Dazu kam die Emp­feh­lung der Frak­ti­ons­füh­rung, bei den Wah­len zum Vize­prä­si­den­ten des Deut­schen Bun­des­ta­ges den AfD-Kan­di­da­ten durch Ent­hal­tung die Tür zu öff­nen. Dadurch ent­stand bei vie­len Wäh­lern der Ein­druck: Wenn man sei­ne Stim­me gegen rech­te Kräf­te abge­ben will, ist die CDU kei­ne siche­re Bank mehr. Des­halb muss nun zwei­er­lei gel­ten: Har­te Abgren­zung gegen­über der AfD und ein har­ter Schnitt gegen­über denen, die das nicht wol­len. Die­se scha­den der Uni­on und ihren Chan­cen bei den Wahlen.

- Eine gute Ant­wort auf die Anlie­gen der jun­gen Genera­ti­on zu fin­den. Das unwür­di­ge Schau­spiel, das die CDU teil­wei­se gegen­über den Fri­days for Future abge­ge­ben hat, war zum Teil in der Art der Arro­ganz abschre­ckend („Die sol­len erst ein­mal was ler­nen“) als auch in der Holp­rig­keit, die eige­nen Posi­tio­nen dar­zu­stel­len. Hier müs­sen wir auf allen Ebe­nen bes­ser wer­den. Zudem kom­men in den letz­ten Wochen immer mehr Bür­ger­be­we­gun­gen zu Wort, die sich zum Schutz des Kli­mas orga­ni­sie­ren. Zumin­dest bei mir tau­chen sie ver­stärkt auf mit der Bit­te um Gesprächs­ter­mi­ne. War­um bin­den wir die­se nicht ein, etwa durch eine Groß­ver­an­stal­tung “Kli­ma­kon­vent für Deutsch­land”? Dort könn­ten die Anlie­gen die­ser (bür­ger­li­chen!) Grup­pen auf­ge­nom­men und für die Poli­tik frucht­bar gemacht wer­den. Denn mein Ein­druck war bis­lang: Da ist viel Enga­ge­ment, Sach­ver­stand und Ver­än­de­rungs­be­reit­schaft am Wer­ke aus der bür­ger­li­chen Mit­te her­aus; die­se Men­schen suchen Ando­ckungs­stel­len in der Poli­tik, und wir müs­sen sie geben. Nach­hal­tig­keit und Bewah­rung der Schöp­fung sind kon­ser­va­ti­ve, christ­li­che Anlie­gen. Aber kaum jemand for­mu­liert das auch in die­ser Deut­lich­keit. Men­schen, die wie Klaus Töp­fer das Anlie­gen Umwelt- und Kli­ma­schutz ver­tre­ten haben, feh­len. Es ent­steht der Ein­druck, dass wir in die­sen Fra­gen eher auf der Brem­se ste­hen, statt klu­ge Lösun­gen aus dem Geist des christ­li­chen Men­schen­bilds zu ent­wi­ckeln. Nur die Uni­on kann es schaf­fen, die­se The­men mit ande­ren wie z.B. der Sozia­len Markt­wirt­schaft, dem Indus­trie­stand­ort Deutsch­land sowie der Ener­gie­si­cher­heit und –bezahl­bar­keit zu ver­ei­nen. Das ist unser Allein­stel­lungs­merk­mal, jen­seits allem Alarmismus.

- Der deut­sche Sozi­al­staat wird nur dann zukunfts­fest wer­den, wenn alle gemäß ihren Mög­lich­kei­ten dazu bei­tra­gen. Star­ke Schul­tern müs­sen auch mehr tra­gen. Die Sozia­le Markt­wirt­schaft wird nur dann das Ver­trau­en der Men­schen erhal­ten und gleich­zei­tig als Vor­bild für ande­re Län­der die­nen, wenn „sozi­al“ dabei kein Adjek­tiv, son­dern ein kon­sti­tu­ti­ves Merk­mal ist. Dabei müs­sen wir offen über die rea­len Leis­tungs­mög­lich­kei­ten, aber auch über sozia­le Ver­ant­wor­tung dis­ku­tie­ren, ohne dass die CDU dabei in die Nähe von Neid­de­bat­ten und sozia­lis­ti­schen Träu­me­rei­en gerät. Eine sozia­le Spal­tung scha­det unse­rem Land. Umge­kehrt: Die Pra­xis von Hartz 4 lässt sich nur recht­fer­ti­gen, wenn wir auch dafür Sor­ge tra­gen, dass kei­ne Par­al­lel­welt in den obe­ren Ver­mö­gens­stu­fen ent­steht. Wir dür­fen nicht zulas­sen, dass Erfol­ge pri­va­ti­siert und Plei­ten sozia­li­siert wer­den. Dazu gehört in der zwei­ten Stu­fe auch die kon­struk­ti­ve Teil­nah­me an der Debat­te über ein sozia­les Euro­pa. Die­se wer­den wir nur dann gut bestehen kön­nen, wenn wir nicht reflex­ar­tig alle Vor­schlä­ge ableh­nen. Ein nicht sozia­les Euro­pa ist dem Popu­lis­mus schutz­los aus­ge­lie­fert. Euro­pa wird aber gestärkt, wenn wir die Chan­cen der Men­schen, ihren Lebens­ent­wurf ver­wirk­li­chen zu kön­nen, stär­ken. Dabei muss es vor allem um Hil­fe zur Selbst­hil­fe gehen.

- Nicht nur die Regio­nen, son­dern die Städ­te wie­der in den Blick rücken. Die Tat­sa­che, dass fast alle gro­ßen Städ­te an die Grü­nen gegan­gen sind, ist alar­mie­rend. Wir haben unse­re Groß­stadt­kom­pe­tenz ver­lo­ren, weil wir auf die Fra­gen der Men­schen kei­ne oder nicht die rich­ti­gen Ant­wor­ten haben und den Puls der Stadt nicht mehr füh­len (life­style!). In den Städ­ten muss eine ande­re Poli­tik gemacht wer­den, weil die bür­ger­li­che Mit­te dar­auf war­tet. Das betrifft Fra­gen moder­ner Ver­knüp­fun­gen von Woh­nen, Ener­gie­er­zeu­gung und Mobi­li­tät, es betrifft aber auch ganz real Fra­gen der explo­die­ren­den Wohn­kos­ten in den Groß­städ­ten. Die bis­he­ri­gen Ant­wor­ten der CDU dar­auf sind eher von inter­es­se­ge­lei­te­ter intel­lek­tu­el­ler Beschei­den­heit geprägt, und das mer­ken die Men­schen. Zusätz­lich müs­sen wir auch Ant­wor­ten auf die Ver­än­de­run­gen der Sozi­al­struk­tur fin­den. Nir­gends sonst schrei­tet die — frei­wil­li­ge oder unfrei­wil­li­ge — Indi­vi­dua­li­sie­rung des Lebens schnel­ler vor­an als in Groß­städ­ten, nir­gends ist die Fluk­tua­ti­on von Milieus grö­ßer. Indi­vi­dua­li­sie­rung heißt aber nicht, dass Men­schen in einer mona­den­haf­ten Exis­tenz glück­lich sind oder sich gut auf­ge­ho­ben füh­len. Auch sie brau­chen Struk­tu­ren, die sonst häu­fig die Fami­lie bereit­ge­stellt hat. Das muss sub­si­di­är durch die Poli­tik gestellt werden.

- Wie umge­hen mit der AfD? Die AfD hat mitt­ler­wei­le im Osten Hoch­bur­gen. Sie haben die Lin­ke als Par­tei, die sich für die Men­schen ein­setzt, die sich abge­hängt füh­len, ersetzt. Trotz allem scheint aber auch rich­tig: Die AfD wird nicht wegen ihres Pro­gramms gewählt, son­dern fast aus­schließ­lich als Pro­test. Folg­lich erwar­ten die Wäh­ler von der AfD auch kei­ne poli­ti­schen Kon­zep­te oder Ant­wor­ten – viel­leicht außer der, weni­ger Aus­län­der ins Land zu las­sen. Erstaun­li­cher­wei­se sind die Wahl­er­geb­nis­se der AfD häu­fig umge­kehrt pro­por­tio­nal zu der Anzahl der Aus­län­der. In Frank­furt am Main bei­spiels­wei­se, wo fast 50% der Bewoh­ner einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund haben, konn­te die AfD bei den Euro­pa­wah­len nur 6,7% erzielen.

Die AfD ist eine Par­tei mit stark wider­sprüch­li­chen Ele­men­ten. Neben iden­ti­tä­ren und völ­ki­schen Ideen sind auch paläo­li­be­ra­le und sozia­lis­ti­sche Ideen ver­tre­ten. Ein sozia­les Pro­gramm etwa gibt es bis­lang nicht und wird auch für über­flüs­sig gehal­ten. Des­we­gen scheint die ers­te Stra­te­gie gegen­über der AfD nahe­lie­gend: Auf die Wider­sprü­che hin­wei­sen und die eige­ne christ­lich-demo­kra­ti­sche Pro­gram­ma­tik ent­ge­gen stel­len. Dar­aus ergibt sich aber zwin­gend die zwei­te Stra­te­gie: Har­te Abgren­zung. Die CDU wird der AfD eben­so wenig in par­la­men­ta­ri­sche Posi­tio­nen ver­hel­fen wie den Lin­ken. Das müs­sen wir auch inner­par­tei­lich klar machen. Eine Annä­he­rung an die AfD durch einen Rechts­ruck der Uni­on müs­sen wir eine kla­re Absa­ge ertei­len. Das wür­de die Grü­nen dau­er­haft als neue Volks­par­tei der Mit­te eta­blie­ren und uns mar­gi­na­li­sie­ren. Kein Appease­ment nach rechts! Ich bin mir sicher: Für eine gewis­se Stand­fes­tig­keit wer­den wir dann belohnt, wenn wir die Pro­ble­me, denen die AfD ihre Exis­tenz ver­dankt, auch lösen. Nur zur Erin­ne­rung: Vor der Flücht­lings­kri­se düm­pel­te im Som­mer 2015 die AfD in Umfra­gen etwa 3%! Des­halb: Mut haben, abgren­zen und die Wahl der AfD als das bezeich­nen, was es ist: Als Tabu­bruch für jeden anstän­di­gen Bürgerlichen.

Eine letz­te Bemer­kung mit Blick auf die Kom­mu­ni­ka­ti­on. Par­tei­en leben von der Viel­falt in der inner­par­tei­li­chen Debat­te, aber von der Einig­keit im Auf­tre­ten nach außen. Die Debat­ten zwi­schen CDU und CSU 2017 und 2018 soll­ten uns eine Leh­re sein. Von den Spit­zen­leu­ten muss des­halb mehr Dis­zi­plin ein­ge­for­dert wer­den. Alles, was bei den ande­ren Par­tei­en als „inner­par­tei­li­che Demo­kra­tie“ wahr­ge­nom­men wird, gilt bei uns als Streit. Die andau­ern­den Blut­grät­schen gegen den „eige­nen Laden“ zum Zweck per­sön­li­cher Pro­fi­lie­rung scha­den des­halb der gesam­ten Par­tei. Der poli­ti­sche Geg­ner steht nicht in der eige­nen Par­tei. Inner­par­tei­li­che Debat­ten sind gut und not­wen­dig. Ein geschlos­se­nes Auf­tre­ten nach außen aber auch, wenn die Streit­fra­gen ent­schie­den sind.

Eine Fol­ge der Euro­pa­wahl soll­te aber auch sein, dass wir uns ein­mal Gedan­ken dar­über machen, wie poli­ti­sche Kom­mu­ni­ka­ti­on über­haupt aus­se­hen soll­te. Eine Stär­ke der Demo­kra­tie und eine Grund­la­ge der Sta­bi­li­tät unse­res poli­ti­schen Sys­tems waren stets die­je­ni­gen Poli­ti­ker, die dem Reiz der Schlag­zei­le wider­stan­den und statt­des­sen abge­wo­gen, aus­ge­gli­chen und beson­nen Poli­tik gemacht haben sowie kom­pro­miss­fä­hig und in der Lage waren, media­le Hypes sou­ve­rän aus­zu­hal­ten. Wel­che Aus­wir­kun­gen auf die Sta­bi­li­tät und unse­re Gesell­schaft wird es haben, wenn es zukünf­tig nur noch dar­um geht, wer die Schlag­zei­le besetzt und wer auf einem der vie­len Kom­mu­ni­ka­ti­ons­ka­nä­le am schnells­ten reagiert? Was, wenn die Form wich­ti­ger wird als der Inhalt? Das Ziel der Popu­lis­ten am lin­ken und rech­ten Rand ist es, uns in ihre Are­na zu zie­hen, weil sie dort die Regeln bestim­men. Dort aber wer­den wir kein Spiel mehr gewin­nen und am Ende ver­lie­ren alle!

 

Prof. Dr. Mat­thi­as Zim­mer MdB

ist seit 2009 Mit­glied des Deut­schen Bun­des­ta­ges, seit 2011 Vor­sit­zen­der der CDA-Hes­sen und stell­ver­tre­ten­der Bun­des­vor­sit­zen­der der CDA. Seit 2013 arbei­tet er als Hono­rar­pro­fes­sor an der Uni­ver­si­tät zu Köln.