Die CDU nach dem Parteitag und vor der Bundestagswahl: Christdemokratische Herausforderungen für goldene 20er Jahre
Während sich (fast) alle auf das Superwahljahr in der Pandemie konzentrieren, wirft Dennis Radtke, Mitglied der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament, den Blick auf die Herausforderungen für die CDU in diesem Jahrzehnt. Er zieht die großen Linien, innen- wie europapolitisch. Dabei beleuchtet er auch den christdemokratischen Markenkern und seine Übersetzung in konkrete Politik.
Ein Parteitag, selbst wenn er digital durchgeführt wird, ist kein Computerspiel, bei dem man den abgespeicherten Spielstand so oft neu laden kann, bis das gewünschte Ergebnis eintritt. In der Demokratie, auch in der innerparteilichen, ist ein Ergebnis etwas, dass es zu respektieren gilt, gleichgültig wie knapp es ausgefallen ist. Ein Ergebnis erlangt auch nicht erst dann Gültigkeit, wenn es am Ende eines Mitgliederentscheides steht. Repräsentative Demokratie, ob im Parlament oder auf dem Parteitag, ist kein Akt der eigenwilligen Selbstbemächtigung, sondern hat ihre Wurzeln dort, wo das Herz der Partei schlägt und die breite Masse unserer Mitglieder sich engagieren und einbringen: in den Ortsunionen und in den Kreisverbänden. Dieses Prinzip bzw. ein Parteitagsergebnis, das durch dieses Prinzip zustande gekommen ist, in Frage zu stellen, weil gefühlt die Stimmung an der Basis eine andere sei, ist nicht nur fehlender Respekt vor einer demokratischen Entscheidung, es ist vor allem ein höchst gefährliches Narrativ. Es befeuert die Legendbildung vom weltentrückten Establishment redet zum anderen einer Delegitimierung unseres organisatorischen(demokratischen) Grundaufbaus das Wort.
Die CDU muss sich in den nächsten Wochen entscheiden, ob sie schnell den Weg zurückfindet zu der geradezu legendären Geschlossenheit in Wahlkämpfen, die uns, gepaart mit einem unaufgeregten Pragmatismus und dem christlichen Menschenbild als politischen cantus firmus, zum FC Bayern der deutschen Politik gemacht hat.
Die Wahl von Armin Laschet zum CDU-Bundesvorsitzenden wird von Teilen der Medien und der Partei in einem verzerrten Licht dargestellt. So wird das falsche Bild erzeugt, seine Wahl sei eine klare Absage an wirtschaftsliberale und konservative Politikansätze. Die konkrete Politik in Nordrhein-Westfalen liefert anschauliche Beispiele, dass dies nicht der Fall ist und das Wehklagen einem Phantomschmerz entspringt.
Die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen geht bei der inneren Sicherheit mit aller Härte gegen Clan-Kriminalität vor, die Polizei wurde und wird im Bereich Ausrüstung und Personal gestärkt. Die Zahl der Abschiebungen ist so hoch wie die von Bayern und Baden-Württemberg zusammen.
Im Bereich der Wirtschaftspolitik wurden in den sog. „Entfesselungspaketen I – V“ die Bürokratie gerade für den Mittelstand reduziert, umstrittene Maßnahme von rot-grün wie die Hygiene-Ampel oder der Spionageerlass zurückgenommen, Antragsstellungen digitalisiert, Verfahren beschleunigt und 1000 Gründerstipendien vergeben.
Wenn die Wahl von Armin Laschet als Absage an etwas verstanden werden soll, dann an eine Politik, die mit der Kanzlerschaft von Angela Merkel bricht und stattdessen die Polarisierung in den Mittelpunkt rückt.
Mit der Wahl der neuen Parteispitze verbleibt bis zur Bundestagswahl nur noch eine Personalfrage zur Klärung, nämlich die des Kanzlerkandidaten. Die CDU wäre klug beraten, jenseits dieser offenen Personalie alle weiteren Personaldebatten auf die Zeit nach der Bundestagswahl zu verschieben. Forderungen nach einer Einbindung von Friedrich Merz in ein Kabinett, ob noch vor der Wahl oder erst als Teil einer neuen Regierung, mögen für Einzelne ein wichtiger Akt der Sinngebung sein, behindern allerdings in der Breite der Partei die Konzentration auf das Wesentliche, nämlich die inhaltliche Aufstellung für den Wahlkampf und die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Friedrich Merz ist für viele in der Partei zu einer Projektionsfläche geworden, auf der die Erinnerungen an vermeintlich gute alte Zeiten sichtbar werden, ein emotionaler Fluchtpunkt, denen in der Ära Merkel zu viele Volten geschlagen wurden.
Rückwärtsgewandte Sehnsüchte und/oder die Lust auf Abrechnung bringt die CDU ebenso wenig weiter, wie dass von Teilen des Parlamentskreises Mittelstandes der CDU/CSU Bundestagsfraktion geradezu ostentative Lamento, nur mit einer Kurskorrektur könne verlorene wirtschaftspolitische Kompetenz zurückerlangt werden. Wer Zweidrittel der gesamten Fraktion hinter sich versammelt, muss sich fragen lassen, ob die richtigen Themen besetzt worden sind oder ob vor lauter Jammern und Wehklagen über den vermeintlichen Verlust von bürgerlichem Profil hierfür Raum und Energie gefehlt haben. Für die künftige Bundestagsfraktion mache ich mir eher Sorgen mit Blick auf profilierte Sozialpolitiker, die in der nächsten Periode noch einmal zurückgehen wird.
Aus meiner Sicht hat die CDU durch die Wahl von Armin Laschet die Chance, sich auf einer Reihe wichtiger Felder akzentuierter als bisher zu positionieren.
Europa:
Die Europapolitik der CDU in der Ära Merkel ist von einem erstaunlichen Dualismus geprägt. Auf der einen Seite ist Angela Merkel unbestritten die politische Persönlichkeit, auf die auch in der EU alles schaut und die im Zentrum der Entscheidungen steht und dass nicht nur, weil sie die Regierungschefin des größten Mitgliedsstaates ist. Auf der anderen Seite ist die Europapolitik Merkels gekennzeichnet von großer Nüchternheit, einer gewissen Skepsis gegenüber dem Europäischen Parlament und dementsprechend einer Favorisierung eher intergouvernementalen Vereinbarungen, wie kürzlich beim sog. „Recovery Fund“. Die parlamentarische Begleitmusik der Bundestagsfraktion, so wie die parteipolitische der CDU-Führungsgremien, fiel passend dazu eher gedämpft aus.
Will die CDU ihren Status als DIE Europapartei bewahren, reichen künftig historische Querverweise auf in der Vergangenheit Erreichtes nicht mehr aus. Gerade in einer Phase, in der wir in einigen Ländern Osteuropas eine Renationalisierung erleben, in der Rechtsstaatlichkeit offen und provokativ in Frage gestellt wird, in der eine Mischung aus gelangweilten Upper Class Snobs und Populisten das Vereinigte Königreich aus der EU geführt haben, braucht Europa nicht nur gekonntes Politmanagement, sondern eine persönliche Leidenschaft in der Tradition von Helmut Kohl und Konrad Adenauer.
Ich will keiner Laissez-faire-Politik das Wort reden, die arglos das Geld des deutschen Steuerzahlers für die Realisierung von Wahlversprechen in anderen Mitgliedsstaaten hergibt. Zwischen einer solchen Grundausrichtung und der aktuellen, eher gedämpften gibt es allerdings jede Menge Beinfreiheit, die der neue Vorsitzende als ehemaliges Mitglied des Europäischen Parlaments nutzen kann und sicher nutzen wird.
Die epochalen europapolitischen Entscheidungen der Ära Kohl und der Ära Adenauer wurden getroffen und von der CDU offensiv vertreten, losgelöst von den Zustimmungsraten in Umfragen. Beiden war das Herz und die historische Chance im Zweifel auch immer wichtiger als die Momentaufnahme eines Taschenrechner-Displays.
Die Minimalkompromisse mit Blick auf die außenpolitischen Erfordernisse, vor allem der Umgang mit Russland, Belarus und der Türkei, so wie das beinahe Scheitern einer Einigung beim EU-Haushalt, haben noch einmal den Finger in die Wunde der Einstimmigkeit gelegt. Das Erfordernis der Einstimmigkeit in solch zentralen Fragen, ein Relikt aus der Gründungszeit mit sechs Mitgliedern, erweist sich mehr und mehr als nicht mehr praktikabel, ja als Gefährdung des gesamten Projekts. Eine entsprechende Veränderung der Verträge, die die Arbeitsweise neu regelt, ist unerlässlich und wird nur mit einem deutsch-französischen Motor zu erreichen sein. In diesem Zusammenhang muss ferner auch die Frage des Spitzenkandidatenmodells final beantwortet und rechtlich normiert werden. Der Umgang mit der Wahl des Kommissionspräsidenten nach der letzten Europawahl hat zu einem großen Vertrauensverlust geführt, der nur mit einer rechtlichen Klarstellung repariert werden kann.
Losgelöst von den allgemeinen europapolitischen Herausforderungen gilt es die EVP als politische Partei neu aufzustellen. Hierbei kommt dem CDU Vorsitzenden als Vertreter der größten Mitgliedspartei naturgemäß eine tragende Rolle zu. Es gilt zwei zentrale Fragen zu beantworten.
- Wie wollen wir mit der Mitgliedschaft von Fidesz weiter verfahren? Über einen langen Zeitraum sind die Argumente eines für und wider ausgetauscht worden und die Entscheidung immer aufs Neue verschoben worden. Verweise, dass auch andere europäische Parteien problematische Mitglieder haben, sind nicht hilfreich, da wir nur unmittelbaren Einfluss auf das nehmen können, was in unserer eigenen Familie passiert. Die Überzeugung, durch eine Mitgliedschaft in der EVP verstärkt Einfluss nehmen zu können, ist durch das Verhalten in den letzten Monaten einmal mehr ad absurdum geführt worden. Es hat unzählige Versuche gegeben mit Orban und Fidesz zu reden, die immer wieder aufs Neue zu nichts geführt haben. Auch bei den Abstimmungen im Parlament ist Fidesz schon länger an vielen Stellen kein verlässlicher Partner mehr, sondern kultiviert auch hier mehr und mehr ein aus Budapest gesteuertes Eigenleben. Aus meiner Sicht muss die EVP klarstellen: Christdemokratie in Europa ist vielfältig, deckt eine große Bandbreite ab, aber sie ist nicht beliebig. Dort, wo Rechtsstaatlichkeit nicht mehr geachtet wird, dort, wo antisemitische Töne zum politischen Marketing gehören und dort, wo die eigenen Leute offen angegriffen und bekämpft werden, ist das Christdemokratische Spektrum verlassen und die Partei kann nicht mehr Teil dieser Familie sein. Es geht hierbei auch um die grundsätzliche Ausrichtung der EVP. Orban hat klar gesagt, dass er die EVP als rechte Partei etablieren will. Ein solcher „Rechtsruck“ wurde bereits in anderen EVP-Mitgliedsparteien vollzogen, mit niederschmetternden Resultaten. In Frankreich und Italien, die hierfür als Beispiele dienen mögen, sind EVP-Mitgliedsparteien bei den letzten nationalen Wahlen jeweils unter zehn Prozent gefallen.
- Somit stellt sich die Frage: Welche Rolle soll die EVP als Partei künftig, vor allem auch mit Blick auf die nächste Europawahl, spielen und wie kann es gelingen, die Partei zu einem echten Motor mit eigenem erkennbaren Profil zu entwickeln? Die Europawahl 2019 und die politische Kommunikation und der Umgang mit zentralen politischen Themen legen die Schwächen gnadenlos offen. Dass das Tagesgeschäft vor allem von der Fraktion abgearbeitet wird, liegt in der Natur der Sache. Dass es aber z.B. mit Blick auf die verbleibende Legislaturperiode weder eine Diskussion, noch entsprechende Beschlüsse mit Erwartungen an die Kommission und an unsere Kommissare gibt, dass es nicht gelingt, unsere Kernthemen und die großen Linien der EVP emotionaler aufzubereiten und politisch „zu verkaufen“: Es braucht hier mehr Selbstbewusstsein, mehr Erkennbarkeit und eine klare Aufgabenteilung.
Ökonomie, Ökologie und die soziale Frage:
Soziale Marktwirtschaft als sog. „dritter Weg“ hatte in den Anfangsjahren der Bundesrepublik die klare Stoßrichtung, eine Überwindung des Grundkonflikts zwischen Kapital und Arbeit herbeizuführen. Auch wenn es heute auf diesem Konfliktfeld neue Baustellen gibt, auf die später noch einzugehen ist, ist gesellschaftlich eine weitere bedeutungsvolle Komponente hinzugetreten, nämlich die ökologische Frage. Aus meiner Sicht können nur Christdemokraten den scheinbaren Zielkonflikt in diesem Dreieck auflösen, da bei allen anderen politischen Wettbewerbern der Schwerpunkt zu stark einseitig auf einen der Punkte gelegt wird.
Der Kampf gegen den Klimawandel ist ohne Zweifel die größte soziökonomische Herausforderung dieses Jahrhunderts. Für den Erfolg ist es allerdings unabdingbar, dass die beschlossenen Maßnahmen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen und nicht nur von Eliten und privilegierten Kreisen getriggert werden, frei nach dem Motto „die einen fürchten das Ende der Welt, die anderen das Ende des Monats“. Existenzängste von Industriearbeiten, Landwirten und mittelständischen Unternehmern müssen bei den politischen Entscheidungen eine entsprechende Berücksichtigung finden. Die Leitfrage muss sein: wie können wir die Klimaziele erreichen und unser Wohlstandsniveau erhalten.
Für mich ist klar: Wer auf diesem Feld erfolgreich sein möchte, der muss die Industrie als Partner, als Schlüssel zur Lösung begreifen und nicht als Feind. Ohne Innovationen wird der Kampf gegen den Klimawandel nicht gelingen und Innovationen kommen nicht, bei aller Wertschätzung, aus Amtsstuben, sondern aus Unternehmen, die damit Geld verdienen wollen. Wir müssen unsere Industrie transformieren und nicht aus Deutschland und Europa vertreiben. Ein solcher Transformationsprozess benötigt nicht nur die richtigen politischen Rahmenbedingungen und Planungssicherheit, ein solcher Prozess benötigt auch den politischen Dialog mit den Unternehmen und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, mit den Industrieverbänden und Gewerkschaften. Nur wer mit allen Beteiligten auf Augenhöhe spricht, kann für sich in Anspruch nehmen, ein ehrlicher Makler in diesem Prozess zu sein. Wer einseitig Interessen vertritt, der gefährdet durch das in Kauf nehmen von Strukturbrüchen und dem Zusammenbruch ganzer Wertschöpfungsketten den sozialen Frieden in unserem Land. Der Ausstieg aus der Steinkohle und der beschlossene Ausstieg aus der Braunkohle zeigen beispielhaft, wie so etwas gelingen kann. Eine aktive Industriepolitik in Nordrhein-Westfalen, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften gelobt wird, kann und sollte hier beispielgebend für ganz Deutschland werden.
Von zentraler Bedeutung ist allerdings auch, nicht nur zu erklären und zu beschließen, was man nicht mehr will und wo man austeigen will, sondern sich auch klar zu bekennen, was man stattdessen möchte. Gerade bei der Umsetzung der Energiewende und dem stockenden Netzausbau fallen die Schwächen dieser Haltung deutlich ins Auge. Hier ist die CDU gefordert, noch stärker als bisher Flagge zu zeigen, Widersprüche aufzuzeigen und für eine kohärente Politik an dieser Stelle zu kämpfen.
Rheinischer Kapitalismus 2.0:
Einer der wichtigsten Bausteine der sozialen Marktwirtschaft sind Tarifautonomie und Sozialpartnerschaft. In vielen Bereichen, wie z.B. in der Chemie-und Stahlindustrie, finden sich herausragende Beispiele für gelebte Sozialpartnerschaft und innovative Tarifpolitik. Allerdings spielen sich im Schatten dieser Leuchttürme und jenseits von Beschwörungen in politischen Sonntagsreden besorgniserregende Entwicklungen ab. So ist die Tarifbindung in Westdeutschland von 1998 bis 2019 um 23 Prozentpunkte gesunken, von 76 Prozent auf 53 Prozent, in Ostdeutschland im gleichen Zeitraum von 63 Prozent auf 45 Prozent.
Mit Blick auf die betriebliche Mitbestimmung ist eine ähnliche Entwicklung zu verzeichnen. In den betriebsratsfähigen Betrieben schrumpfte die Anzahl von Betrieben mit Betriebsrat bundesweit von 12 Prozent auf 9 Prozent. Damit werden aktuell noch etwa 40 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland von einem Betriebsrat vertreten.
Die Entwicklung der Gewerkschaftsmitgliedschaften ist ebenso besorgniserregend. Waren 1991 noch ca. 11,8 Millionen Menschen in Deutschland Mitglied einer DGB-Gewerkschaft, so sind es heute noch ca. sechs Millionen. Nie waren in Deutschland mehr Menschen sozialversicherungspflichtig beschäftigt und nie waren gleichzeitig weniger Mitglied in eine Gewerkschaft.
Diese Entwicklungen sind Sprengstoff für den sozialen Frieden in Deutschland. Dort, wo immer weniger zwischen den Sozialpartnern geregelt wird, steigt der Regelungsbedarf für Politik. Dies kann und darf in einer sozialen Marktwirtschaft allerdings nicht der Anspruch sein.
Eine Spaltung des Arbeitsmarktes, eine Spaltung von Belegschaften, befördert letztlich eine Spaltung der Gesellschaft.
Es ist an der CDU als DER Partei der sozialen Marktwirtschaft, hier einen Dialog über Verantwortung in Gang zu setzen. Es wäre unverantwortlich, diese Debatte nicht zu führen oder die Führung anderen zu überlassen. Freiheit in der sozialen Marktwirtschaft ist ein hohes Gut, aber Freiheit bedeutet nicht frei von Verantwortung, sondern beides gehört zusammen. Dort wo der Staat mehr und mehr gezwungen wird Dinge zu regeln, die jenseits seiner eigentlichen Kernkompetenzen liegen, entsteht weder mehr Gerechtigkeit, noch mehr Teilhabe an den wirtschaftlichen Erfolgen in unserem Land.
Volkspartei 2.0:
Der Abgesang auf die Volksparteien in Deutschland hat eine lange Tradition, an der sich Stammtisch wie Feuilleton gleichermaßen beteiligen wie ergötzen. Ohne Zweifel sieht sich die CDU hier genau wie SPD und FDP mehreren fundamentalen Veränderungen in Gesellschaft und Medienlandschaft ausgesetzt. Ein „Sofortismus“, der Druck auf alles möglichst in Echtzeit zu reagieren, eine emotionsgeladene Empörungskultur und die Verbreitung von Fake News gehen an den etablierten Parteien eben so wenig vorbei wie die Auflösung klassischer Milieus mit entsprechenden Stammwählerpotential. Das Grundgesetz sieht die Mitwirkung der Parteien am Willensbildungsprozess vor, aber eine Ewigkeitsgarantie für das Bestehen einzelner Parteien spricht es logischerweise nicht aus. Zur erfolgreichen Bewältigung des Veränderungsprozesses, vor dem die Union steht, kann ein Blick zurück hilfreich sein.
23. Februar 2020. Bürgerschaftswahl in Hamburg. Am Ende eines frustrierenden Wahlabends bleibt der schwarze Balken bei 11,2 Prozent stehen. Ein Desaster. In manchen Stimmbezirken erreicht die CDU in der Freien und Hansestadt Hamburg nicht einmal fünf Prozent.
Ich bin mir sicher, dass viele treue CDU Anhänger an solch einem Abend wenigstens einmal kurz den Gedanken haben, was wohl Helmut Kohl nun sagen oder tun würde, denn Helmut Kohl ist und bleibt neben Konrad Adenauer der wichtigste personelle historische Fixpunkt der CDU.
Wer heute an Helmut Kohl denkt, der hat nicht die Schlagworte „Revolutionär“ und „Visionär“ vor Augen. Zu Unrecht!
Doch der „ewige Kanzler“ hat genau so seine politische Karriere begonnen — mit revolutionären politischen Forderungen. Heute, in einer Zeit, in der die erste Sexualaufklärung teilweise schon in Grundschulen erfolgt, wirken Debatten um Kondomautomaten wie aus der Zeit gefallen. Anfang der 50er Jahre war dies ein ungeheurer Skandal, den der JU-Funktionär Kohl losgetreten hatte, als er sich auf einem Landesparteitag der CDU Rheinland-Pfalz für die flächendeckende Aufstellung eben jener Automaten einsetzte.
Inhaltlich blieb Kohl über Jahrzehnte seinem Mut zur Erneuerung treu.
Er, der praktizierende Katholik, schaffte als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz die Konfessionsschulen ab, weil sie seinem Verständnis von der Modernisierung der Schullandschaft im Wege standen.
Er, der als Chemie-Arbeitgeber-Funktionär seine berufliche Laufbahn begonnen hatte, machte den christlichen sozialen Heiner Geißler zum Sozialminister in Rheinland-Pfalz und später den christlichen sozialen Norbert Blüm zum „ewigen“ Bundesarbeitsminister. Beide mit entsprechenden Beinfreiheiten in der politischen Gestaltung.
Den Weg zur Macht durch Staatsämter hat sich Helmut Kohl durch die radikale Erneuerung der CDU gebahnt. Scheiterte er im ersten Anlauf noch an Rainer Barzel, so kennzeichnete doch schon diese Kandidatur für den Vorsitz seinen politischen Mut. Dieser Mut und seine Visionen von einer CDU als Mitgliederpartei, als Volkspartei eines ganz neuen Typus, begeisterte damals viele politische Mitstreiter in der Generation von Helmut Kohl. Die Transformation der CDU von der Honoratiorenpartei zur modernen Mitgliederpartei war nicht mehr aufzuhalten.
Dieser Wandel machte sich nicht nur an Strukturen, sondern auch an politischen Inhalten fest. Starke Vereinigungen, unterschiedliche Köpfe, die unterschiedliche Zielgruppen erreichen und den Mut, neue Wege zu gehen. So war es die CDU, die als erste Partei den Umweltschutz in ihr Grundsatzprogramm aufgenommen hat.
Der inhaltliche und strukturelle Wandel, den Kohl mit seinen Mitstreitern initiiert hat, war jedoch mehr als reiner Selbstzweck auf dem Weg zum Bundeskanzleramt. Er war schlicht eine Notwendigkeit und eine Reaktion auf die runderneuerte SPD mit Willy Brandt an der Spitze, die sich nach dem Godesberger Parteitag nicht nur politisch Richtung Mitte geöffnet hatte, sondern auch durch ihren charismatischen Bundeskanzler ein Anziehungspunkt für junge Menschen und Intellektuelle geworden war. Hierauf galt es eine Antwort zu finden und dies ist in beeindruckender Art und Weise gelungen. Auf diesem Fundament ließ sich politischer Erfolg in den nächsten Jahrzehnten generieren.
Diesen Mut, Bandbreite erkennbar zu machen, „Querköpfen“ und Vordenkern eine Plattform und Verantwortung zu geben, benötigt die CDU heute so dringend wie damals. Wir müssen nicht krampfhaft modern sein und jedem Trend huldigen, aber wir sollten auch nicht, aus Trotz, eine rasierwassergetränkte, breitbeinige Gegenwelt konstruieren wollen, in deren Mittelpunkt die Illusion steckt, man könne die Zeit zurückdrehen und vieles wieder ungeschehen machen. Diesen Mut traue ich Armin Laschet zu, denn er hat diesen Mut in Nordrhein-Westfalen bereits erfolgreich unter Beweis gestellt.
Ein Politikansatz, der verbindet, der zusammenführt, generiert keine politische Oktoberfest-Stimmung. Armin Laschet ist keine präpotente Ein-Mann-Kapelle, bei der schon nach den ersten Takten das Publikum begeistert die Bierbänke erklimmt. Er ist das Gegenmodell, in einer Zeit, in der die Geschwindigkeit der Äußerungen häufig wichtiger erscheint als deren Qualität und in der Aufmerksamkeit oftmals über den Wahrheitsgehalt gehoben wird.
Der CDU als letzter verbliebenen Volkspartei kommt in diesen Zeiten eine besondere Verantwortung zu. Partei, besonders Volkspartei, funktioniert nicht, wenn einzelne Gruppen ihre Maximalforderungen als Glaubenssatz formulieren. Da, wo der Kompromiss und die Bereitschaft dazu, vom Wesenskern der Demokratie in einen Verrat an den eigenen Positionen umgedeutet wird, da werden die Grundpfeiler einer Partei erschüttert.
Diese besondere Verantwortung haben wir aber nicht nur uns gegenüber, um die Union auf Erfolgskurs zu halten, sondern vor allem auch der Gesellschaft gegenüber, denjenigen gegenüber also, für die mehr als 400.000 Christdemokratinnen und Christdemokraten jeden Tag ehrenamtlich und hauptamtlich arbeiten. Dafür lohnt es sich die Ärmel hochzukrempeln. Wir haben alle Chancen, die 20er Jahre zu goldenen Zeiten für unser Land und für unsere Partei zu machen.
Dennis Radtke
ist seit 2017 Europaabgeordneter in der EVP Fraktion. Er ist für Herbert Reul über die Landesliste NRW nachgerückt. Der 41jährige ist Koordinator seiner Fraktion im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten (EMPL). Vor seiner Abgeordnetentätigkeit war er bei der IG BCE als Gewerkschaftssekretär tätig. Ehrenamtlich ist er im CDA-Bundesvorstand aktiv. Er ist Vater einer Tochter und lebt in Bochum.