Die „alternativen“ 68er
Der ehemalige RCDS-Bundesvorsitzende und Bundesbankvorstand Hans Reckers mit einer Rezension des Buches „The Other 68ers“ der deutschen Historikerin Anna von der Goltz
Anna von der Goltz ist eine deutsche Historikerin, die in Washington lehrt. Mit ihrem 272-seitigen Buch „The Other 68ers“, das bisher leider nur in Englisch erschienen ist, füllt sie eine Forschungslücke zu „1968“, die bislang in der Literatur kaum Beachtung gefunden hat. Denn über die gemäßigte Seite der 68er gibt es zwar graue Literatur, aber bisher kaum Forschungsarbeiten. Im Wesentlichen beschränken sich diese auf die Promotion von Johannes Weberling über den RCDS (1990), Matthias Kutsch und Bernhard Vogel „1968. 40 Jahre danach“ (2008) und zuletzt den Sammelband von Ursula Männle „1968 – aus konservativer Sicht“ (2018). Die Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung enthalten ebenfalls Darstellungen aus der Sicht von „centre-right“, z.B. von Wulf Schönbohm.
1968 kann man nur verstehen, wenn man die anderen politischen Frontlinien an den damaligen Hochschulen kennt. Die 68er waren dreigeteilt: „Linksradikale“, „Linkssozialistisch-radikaldemokratische“ und „Gemässigte“. Die beiden ersten Gruppen koalierten seit der wichtigen „Hoechster Vereinbarung“ 1964 miteinander und erreichten damit seit 1969 die Mehrheit. 1968 verliefen die politischen Fronten an den Hochschulen nicht zwischen den Parteien, sondern zwischen Systemanhängern und Systemgegnern, zwischen Reform und Revolution. Viele bewegten sich auch zwischen diesen Fronten. Die Jusos formulierten dies als „systemüberwindende Reformen“. SPD- und FDP-Mitglieder waren auf beiden Seiten dieser politischen Frontlinie zu finden.
1968 verliefen die politischen Fronten an den Hochschulen nicht zwischen den Parteien, sondern zwischen Systemanhängern und Systemgegnern, zwischen Reform und Revolution.
Interessant dabei ist, dass es von gemäßigten Autoren mehr Bücher gegen die studentische 68er- Linke gibt als über den RCDS und dessen liberale Bündnispartner. Schon diese Literaturlage verdeutlicht, dass manche die gemäßigte Seite sehr stark als eine Anti-Links-Bewegung verstanden haben und zum Teil sogar eher aus diesem Motiv Reformen befürworteten, um den Linken das Wasser abzugraben.
Ein wichtiger Forschungsbeitrag
In sechs Kapiteln beschreibt von der Goltz die bisher unterbelichtete Seite der gemäßigten 68er im Meinungs- und Deutungskampf. Sie stützt sich auf 27 Zeitzeugen-Interviews mit damaligen Repräsentanten der Gemäßigten und eine sorgfältige Auswertung von Literatur und grauem Schrifttum. Methodisch setzt sie sich insbesondere mit „oral history“ und der politischen Bedeutung von „Generationen“ auseinander. Sie hält den Generationsbegriff für häufig einseitig interpretiert und kritisiert, dass die Konflikte innerhalb der 68er-Generation zu wenig dargestellt werden.
Die „alternativen“ 68er beschreibt sie mit deren Familienhintergrund, Hochschulaktivitäten und späteren Karrieren. Interessant ist auch die Darstellung von drei Renegaten (S. 67–72), die aus dem RCDS austraten und eine eigene linksliberale Gruppe („Linke Liste“) gründeten. Diesen Austritt einer Gruppe unter Führung von Jürgen Runge aus der RCDS-Gruppe FU Berlin hat schon Manuel Seitenbecher in einem Aufsatz konkret geschildert.
RCDS-Mitglieder halfen mit, die bekannte Diskussion zwischen Ralf Dahrendorf und Rudi Dutschke zu organisieren.
Von der Goltz hebt hervor, dass 1968 zwischen Gemäßigten und Radikalen teilweise noch ein offenes Diskussionsklima herrschte und sich die Auseinandersetzungen später in „hardening fronts“ (S. 183) veränderten, insbesondere zu Themen der Gewaltanwendung, zum Radikalenerlass und zum Terrorismus. Das Titelbild des Buches wirft ein Schlaglicht auf die Situation im Januar 1968: RCDS-Mitglieder in Freiburg halfen mit, die bekannte Diskussion zwischen Ralf Dahrendorf und Rudi Dutschke zu organisieren.
Zum Buch
Das erste Kapitel beschreibt die Aktivitäten der Gemäßigten 1967/68, das zweite deren Prägung, auch durch Intellektuelle wie Karl Popper und Dahrendorf. Das dritte Kapitel, das die Autorin auch auf dem Historikertag 2018 vorgetragen hat, beschreibt die kulturellen Standpunkte („the mental map“) und Aktivitäten der analysierten Gruppierungen „between Adenauer and Coca-Cola“. Im vierten Kapitel werden die internationalen Themen behandelt, „from Berlin to Saigon and back“, insbesondere auch die klare Menschenrechtspolitik der Gemäßigten in Ost und West. Im fünften Kapitel werden die Fronten der 70er Jahre genauer beschrieben und im letzten Kapitel unter „The irresistibel rise of the Other 68ers“ ein Fazit gezogen.
Von der Goltz kommt zu „three main takeaways“ (S.267–272): 1968 involvierte auch die „centre-right“, „the 68ers were no uniform collective“ und „the centre-right involvement in 1968 had real consequences“. Mit dem letzten Punkt meint sie insbesondere die späteren Aktivitäten der „alternativen 68er“ für Helmut Kohl und Heiner Geissler.
Zwar mehrfach erwähnt, aber unterbelichtet, wird von der Autorin die formelle Studentenpolitik in AStA‘s, Studentenparlamenten und Fachschaften. Insbesondere durch die Gründung der „Deutschen Studenten-Union“ gelangen den „centre-rights“ 1968 und 1969 Mehrheitsbildungen in einer Reihe von Hochschulen, z.B. in München, Münster, Köln, Bonn, Mainz und Karlsruhe. Ein Teil dieser AStA‘s trat 1969 aus dem linksradikal gewordenen VDS (Verband Deutscher Studentenschaften) aus und gründete die ADS (Arbeitsgemeinschaft Deutscher Studentenschaften) unter dem Vorsitz von Norbert Jankowski und Ruprecht Polenz.
Die CDU-Spitze war damals über „68“ sehr informiert und zum Teil sehr besorgt. Kohl und andere sprachen von einer „heilsamen Unruhe“ der Studenten.
Die CDU-Spitze war damals – angefangen von Kurt-Georg Kiesinger – über „68“ sehr informiert und zum Teil sehr besorgt. Es fanden viele Gespräche statt und Kohl und andere sprachen von einer „heilsamen Unruhe“ der Studenten. Kurt Biedenkopf erlebte 1968 als damaliger Präsident der Landesrektorenkonferenz durchaus positiv. Insofern ist die klare Periodisierung der Autorin zwischen der diskussionsoffenen Anfangsphase (mit dem SDS) und den „hardening fronts“ der 70er Jahre (mit MSB Spartakus und K‑Gruppen) sehr wichtig.
Zum 68er-Bild gehören natürlich auch die Studentenverbindungen und konfessionellen Studentengemeinden, deren Bedeutung nach 1968 stark abnahm. Dazu liegt zur früheren katholischen KDSE (Katholische Deutsche Studenteneinigung) ein interessantes Buch von Christian Schmidtmann vor. Die gemäßigten unter den Professoren werden sehr gut dargestellt in den Büchern von Nicolas Wehrs und Svea Koschwitz über den „Bund Freiheit der Wissenschaft“.
Bis heute bedeutsam
Bedeutsam bis heute sind die vielfältigen Interaktionen und Diffusionen zwischen den geistigen Strömungen der 68er, den Parteien (insbesondere Jusos, Judos und die Anfänge der Grünen teilweise aus den K‑Gruppen) und verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. Wer hat sich mehr verändert: Staat und Gesellschaft durch „Fundamentalliberalisierung“ oder „Werteverfall“ oder die linken 68er, die sich in das früher verhasste „System“ integrierten?
Hat sich das deutsche Parteien‑, Medien- und Rechtssystem durch die Auseinandersetzung und die Integration der 68er positiv bewährt? Die Strafamnestie 1969 und der Radikalenerlass 1972 sozusagen als „Zuckerbrot und Peitsche“ sind herausragende Beispiele dieser Interaktionen.
Die 68er waren dreigeteilt: Linksradikale, Linkssozialistisch-radikaldemokratische und Gemäßigte. Es lohnt sich, deren Auseinandersetzungen untereinander und mit Staat und Gesellschaft genauer zu untersuchen. Anna von der Goltz hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet.
Dr. Hans Reckers
war von 1975 bis 1977 Bundesvorsitzender des RCDS. Nach diversen leitenden Funktionen im Bundeskanzleramt und verschiedenen Bundesministerien war er in den 2000er Jahren im Vorstand der Deutschen Bundesbank und 2015/2016 Staatssekretär für Wirtschaft, Technologie und Forschung in Berlin. Er ist Mitglied im Beirat der CIVIS mit Sonde.
Zum Buch: Anna von der Goltz, The Other 68ers, Oxford University Press, 2021
Bild: Konrad-Adenauer-Stiftung e.V.