CDU, disrupt yourself!
“Quo vadis, CDU?” – Impuls 1: Den Auftakt zu unserem Online-Symposim macht der ehemalige CDU-Kampagnenstratege Joachim Koschnicke. Er sagt: Die CDU erfüllt aktuell weder die Kriterien einer Volkspartei noch ist sie “Kanzler-ready” für eine Zeit nach Merkel. Die CDU brauche keine neue Parteiführung, wohl aber einen Plan und ein Programm.
Das Fazit vorweg:
1. Die CDU erfüllt aktuell qua Definition nicht die Kriterien einer Volkspartei.
2. Die CDU ist aktuell nicht in der Lage, mit ihren Kampagnen jenseits der „Bubble“ die Bürger zu erreichen.
3. Die CDU wäre aktuell in einer Zeit nach Bundeskanzlerin Merkel nicht „Kanzler-ready“.
Was sagen die Fakten?
- 8 Millionen mehr Wähler bei der Europawahl. Das ist fantastisch. Ein Dank gebührt auch den vielen Firmen, Verbänden und Institutionen, die zur Wahl aufgerufen haben. Zum Vergleich: 8 Millionen sind mehr als Niedersachsen Einwohner zählt.
- Nur zwei Parteien haben es fertiggebracht, trotz 8 Millionen mehr Wählern an der Urne, weniger Stimmen als bei der letzten Europawahl auf sich zu vereinen: Die CDU (ca. 400.000 weniger Stimmen) und die SPD (ca. 2,1 Mio. weniger Stimmen).
- Die Tatsache, dass in Brandenburg und in Sachsen (Sachsen schmerzt angesichts des Einsatzes und der Kommunikation von Michael Kretschmer besonders) die AfD stärkste Partei geworden ist, lässt aufschimmern, welche parteiinternen und gesellschaftlichen Debatten wir im Herbst vor uns haben. Wenn sich die CDU im Osten wahlweise für oder gegen die AfD oder die Linkspartei zu entscheiden hat, würde man das im Wirtschaftssprech „Disruption“ nennen.
- Die Tatsache, dass die Grünen in neun der zehn größten Städte Deutschlands Nummer Eins sind, setzt einen langen Trend fort. Und, es sind nicht nur Großstädte, sondern auch solche wie z.B. Bonn.
- Wenn wir den Blick weiten, sehen wir „Disruption“ in vielen Ländern Europas:
• In England gewinnt eine Partei, die Europa verhöhnt.
• In Frankreich spielen die etablierten Parteien überhaupt keine Rolle mehr.
• In Italien wird es aufgrund des Ergebnisses Neuwahlen geben. Ebenso in Griechenland.
• Österreich fällt bis auf Weiteres aus.
• In Belgien ist ein längst überwundener Streit zwischen Flandern und Walonen wieder ausgebrochen.
• Polen, Ungarn, …
Wozu führt das?
- Zunächst zu einem Europa, welches bis auf Weiteres noch weniger als bisher fähig sein wird, sich auf dringend notwendige Positionen zu einigen.
- Zu einer Bundesregierung, die ihre Legitimität nur noch aus der vergangenen Bundestagswahl ziehen kann, jedoch immer weniger aus der Unterstützung der Bevölkerung.
- Ein Bruch der Regierung würde niemanden überraschen, vermutlich viele erleichtern. Aber: Haben wir einen Plan für die Zeit danach? Sind wir programmatisch, personell, organisatorisch und kulturell gerüstet? – Die Frage mag jeder für sich beantworten. Mein Fazit ist, dass die CDU in einer Ära nach Bundeskanzlerin Merkel nicht „Kanzler-ready“ ist.
- Ich habe keine Fakten, vermute aber stark, dass Axel Voss von der Partei herzlich allein gelassen wurde, bei der Auseinandersetzung um eine der zentralen Fragen im Europawahlkampf. Er hätte ein großes Social-Media-Team nebst Budget benötigt, um zu bestehen.
- Es mutet schon abgehoben an, wenn gleichzeitig zu dieser und anderen intensiven gesellschaftlichen Debatten „Friede, Freude, Eierkuchen-Plakate“ geklebt werden.
Was ist zu tun?
- Erstens annehmen, dass die Überschrift eines Youtubers keine Kampfansage war, sondern eine schlichte Beschreibung des Status quo. Die ganze Gesellschaft befindet sich in einer Transformation, so auch die Parteien. In der Wirtschaft macht seit fast zehn Jahren der Slogan „Disrupt yourself“ die Runde. Dies steht für vorausschauende und verantwortungsvolle Unternehmensführung, die nicht abwartet, sondern sich verändert, um zu bestehen.
- Zweitens annehmen, dass die CDU programmatisch und kommunikativ nicht in der Lage ist, ein Angebot für Deutschland und Europa zu formulieren, welches glaubwürdig Wohlstand und Sicherheit auch für die nächsten Generationen verspricht.
- Drittens annehmen, dass es für die Wähler irrelevant ist, wer nächster Kommissionspräsident oder Kommissar wird. In dem Moment, in dem die CDU im Wahlkampf, und noch schlimmer am Wahlabend, über Personen statt Programme gesprochen hat, hat sie sämtliche „Nicht-Funktionäre“ vor den Kopf gestoßen. Die Kampagne für Manfred Weber hat der CSU geholfen, wenigstens einige der „8‑Millionen-Mehr-Wähler“ zu bekommen. Schön. Für die CDU war es von Tag eins an klar, dass die teure Werbung für einen unbekannten Spitzenkandidaten lediglich den Bekanntheitsgrad einer Person kurzfristig erhöhen würde. Auf wichtige Botschaften und Haltungen wurde leider gleichzeitig verzichtet. Was ist das höhere Gut? Natürlich letzteres. Insofern macht das Modell eines Spitzenkandidaten künftig überhaupt nur Sinn, wenn die Kandidatin oder der Kandidat bereits über ein bundesweites Profil verfügt. Dies war selbst bei Bundesministerin Barley nicht ausreichend der Fall.
- Viertens verstehen, dass die „alte Politik“ nicht mehr zukunftsfähig ist. Berlin ist eine riesige, aufgeregte „Bubble“. In dieser „Bubble“ werden die Politikteile der Zeitungen gelesen, vergnügt man sich auf Sommerfesten und parlamentarischen Abenden und bekommt den Eindruck der Relevanz vorgetäuscht. Außerhalb dieser „Bubble“ besteht die „Berliner Bubble“ aus Politik, Verbänden und Medien den Stresstest nicht mehr.
- Fünftens, nicht programmatisch auf ein notwendiges neues Grundsatzprogramm warten. Deutschland und Europa brauchen jetzt Antworten.
• Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, unsere Schöpfung zu bewahren.
• Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens, wie das gelingen kann. Allein davon betroffen sind mindestens die Bereiche Bauen, Wohnen, und Mobilität. Warum entwickelt die CDU nicht als erste Partei den gesellschaftlichen Konsens, wie wir zum Ziel kommen? Und das nicht in Silos oder Bundesfachausschüssen denkend, sondern umfassend!
• Es gibt einen gesellschaftlichen Konsens, dass die Zukunft Deutschlands auch außerhalb Europas liegt.
• Es gibt keinen gesellschaftlichen Konsens, was angesichts der Isolierung der USA unsere Rolle in der Welt ist. Was machen wir zum Beispiel mit dem von Präsident Xi vor zwei Jahren (!) in Davos formulierten Angebot? Er hat die Hand ausgestreckt. Er hat Angebote im Großen (level-playing-field) und im Kleinen (Pilotprojekte) formuliert. Im selben Jahr hat China seine Strategie „Made in China 2025“ vorgestellt. Was ist die Strategie „Made in Germany 2025“?
• Diese Liste ließe sich fortsetzen.
- Sechstens, nichts mehr versprechen, was man offensichtlich nicht halten kann: Die Digitalisierung der Behörden wird scheitern, weil der Ansatz, dass es die Behörden machen sollen, nicht funktionieren kann. Deutschland kann aktuell keine Großprojekte in Beton – das ist schlimm. Zu versprechen, „der Staat“ könnte digitale Großprojekte, ist mindestens „sehr optimistisch“.
- Siebtens sollte sich jeder persönlich fragen, ob er oder sie heute erneut in die CDU oder Junge Union eintreten würde. Was wäre das Ergebnis, würde der CDU-Vorstand am kommenden Wochenende eine geheime Wahl durchführen und exakt diese Frage mit ‚ja‘ oder ‚nein‘ beantworten lassen?
- Achtens, die Landtagswahlen im Herbst aus allen Landesverbänden heraus sowie mit allen zur Verfügung stehenden Ressourcen unterstützen. „Unterstützen“ muss und kann nur heißen, den Strategien der Wahlkämpfer zu folgen. „Unterstützen“ darf nicht heißen, Strategien in Frage zu stellen. Die Wahrheit ist auf dem Platz. Und der Platz in Brandenburg, Sachsen und Thüringen ist ein anderer als in NRW, Hessen oder Bayern.
- Neuntens, den Anspruch der Volkspartei nicht aufgeben. Die CDU erfüllt ihn aktuell nicht. Das Ziel bleibt richtiger denn je.
- Zehntens loslegen und das Projekt „Umkehrschub“ starten. Die Angst der Abgeordneten vor Neuwahlen darf nicht zu einer Starre führen. Und: Die Angst vor Neuwahlen darf nicht dazu führen, dass die Grundfesten der Sozialen Marktwirtschaft geopfert werden: Eine Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung ist ebenso ein „No-Go“, wie die diskutierte Enteignung von Firmen.
- Zuletzt: Die CDU braucht keine neue Parteiführung, wohl aber einen Plan und ein Programm.
Joachim Koschnicke
war von 1999 bis 2011 im Konrad-Adenauer-Haus tätig – zuletzt als Bereichsleiter für strategische Planung und Kommunikation. Von 2011 bis 2012 war er Forsa-Geschäftsführer, seit 2013 arbeitete er in der Geschäftsführung von Opel/General Motors Europe. Seit 2018 ist Koschnicke Partner bei Hering Schuppener Consulting, einer Managementberatung für strategische Kommunikation.