Bezahlbarer Wohnraum – eine olympische Herausforderung
Wir starten eine neue Beitragsreihe auf dem CIVIS-Blog: „Impulse für die Zwanziger“. Darin möchten wir Anregungen für die Unionspolitik im neuen Jahrzehnt präsentieren. Den Auftakt machen wir mit einem Beitrag aus eigener Feder. Die CIVIS-Redaktion meint: Wir brauchen einen ideologiefreien Ausgleich der nur scheinbar widerstreitenden Interessen für einen gesunden Wohnraummarkt in deutschen Großstädten.
Wer in den letzten Jahren in einer deutschen Großstadt nach Wohnraum – ob zur Miete oder zum Kauf – gesucht hat, der weiß, dass dies kein Vergnügen ist. In Berlin beispielsweise hat sich die Durchschnittsmiete von 2004 bis 2019 auf durchschnittlich circa 9,60 Euro pro Quadratmeter verdoppelt, in München sind Mieten mit mehr als 18 Euro pro Quadratmeter nicht mehr die Ausnahme, sondern werden zur Regel. Selbst in „kleineren Großstädten“ wie Freiburg und Heilbronn lag die Durchschnittsmiete im 4. Quartal 2019 bereits bei über 12 Euro. Die Tendenz ist seit Jahren steigend.
Das wäre kein Problem, wenn auch die Einkommen in den jeweiligen Städten proportional hierzu anstiegen. Doch die sogenannte „30-Prozent-Mietregel“, nach der eine wirtschaftliche Miete nicht mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens eines Haushaltes betragen sollte, kann oft nicht mehr realisiert werden: In München, Berlin, Frankfurt und Hamburg beträgt die Miete im Durchschnitt zwischen 38 und 45 Prozent des Haushaltsnettoeinkommens. Die Mieten werden also nicht nur inflationsbedingt teurer, sondern die Grenze dessen, was wirtschaftlich für einen Mieter vernünftig oder gar ertragbar ist, wird – jedenfalls in Großstädten – zunehmend überschritten. Nicht wenige Ökonomen erwarten, dass die Wohnkosten auf längere Sicht schneller steigen könnten als das Einkommen.
Alle eint der Wunsch nach individuell bezahlbarem Wohnraum – und insgesamt einem gemäßigten Immobilienmarkt. Das sollte auch im Interesse von Vermietern und Investoren sein. Auch wenn die rasant steigenden Mieten und Immobilienpreise kurzfristig zu sehr lukrativen Renditen führen, sollten wir spätestens seit 2008 gelernt haben, dass Blasen im Immobiliensektor am Ende Mietern, Vermietern, Investoren und Banken schaden! Die jüngeren Preisentwicklungen sind im Übrigen nicht nur eine Folge der Niedrigzinspolitik, weil Investoren Alternativen zu Anleihen suchen, sondern mittelbar auch eine Folge staatlicher finanzieller Unterstützungen für Hausbauende; dessen sollte man sich zumindest bewusst sein. Neben den ökonomischen Risiken bergen dysfunktionale Immobilienmärkte auch politische Gefahren: Die Unterstützung für populistische Parteien wächst dort, wo Wohnraum in Großstädten nicht mehr bezahlbar ist und Mieter gezwungen sind, in „zurückgelassene“, häufig strukturschwache Regionen auszuweichen.
Die Aufgabe, bezahlbaren Wohnraum zu schaffen, ist aus unserer Sicht ein klassischer Anwendungsfall der sozialen Marktwirtschaft. Der Staat besitzt gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern eine Fürsorgepflicht in Bezug auf bezahlbaren Wohnraum. Verfassungsrechtlich gebietet das das Sozialstaatsprinzip. Es kann gesellschaftlich nicht gewollt sein, dass Krankenpfleger oder Feuerwehrleute täglich anderthalb Stunden zu ihrer Arbeitsstätte im Stadtzentrum anreisen müssen. Denn auch wenn faktisch und finanziell nicht jeder Bewohner einer Stadt in deren Zentrum wohnen kann, gibt es im Rahmen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des sozialverträglichen Miteinanders Grenzen für zumutbare Arbeitswege. Es kann daher nicht allein ausreichen, wenn Wohnungen am untersten Ende der Preisskala, in schlechtem Zustand und schlechter Lage, günstiger werden.
Das Problem des bezahlbaren Wohnraums entspringt zunächst auf der Nachfrageseite des Wohnmarktes. Nicht der Anstieg der Gesamtbevölkerung in Deutschland auf über 83 Millionen bildet den Grund für den Anstieg der Mieten. Dieser liegt vornehmlich in der sogenannten „Landflucht“, dem vermehrten Zuzug der Bevölkerung aus ländlichen Regionen in die Ballungsräume. Die Ursachenanalyse dieser speziellen Entwicklung muss an dieser Stelle außen vor bleiben. Positiv zu vermerken ist, dass der Zuzug in die Großstädte zuletzt zumindest leicht abgenommen hat. Wir fragen uns: Wie sind die steigenden Mieten in den Griff zu bekommen?
Ein rein marktwirtschaftlicher Ansatz, dass alleine der Markt durch Angebot und Nachfrage die Mieten regelt und keinerlei politische Maßnahmen ergriffen werden, erscheint mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen wenig erfolgversprechend. Der Wohnungsmarkt ist unelastisch, d.h. die steigende Nachfrage führt weder unmittelbar noch zwingend überhaupt zu einem höheren Wohnangebot. Vielmehr steigen die Mieten. Insofern sind Eingriffe in den Markt grundsätzlich von Nöten.
Ein Zuzugsverbot, wie es der ehemalige Bezirksstadtrat für den Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf, Christian Gräff, unlängst forderte, widerspräche jedem freiheitlichem Empfinden. Auch sollten weder gesetzlich geregelte Mieten noch post-sozialistische Enteignungsphantasien als vermeintliche Heilmittel herangezogen werden. Mietendeckel mögen kurzfristige Linderungen herbeiführen, mittelfristig lösen sie die Probleme jedoch nicht; eher verschärfen Mietendeckel gar manche Probleme, weil Neuinvestitionen und Modernisierungen des Hausbestands ausbleiben. Diejenigen, die Geld für notwendige Investitionen in den Immobilienmarkt zur Verfügung stellen, dürfen nicht nur im Hinblick auf immer wichtiger werdende klimafreundliche Sanierungsmaßnahmen durch übermäßige Regulierungen abgeschreckt werden. Wie wichtig Investitionen in den Immobilienmarkt sind, ist im Osten Deutschlands noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung und als Spätfolge von 40 Jahren sozialistischer Bauweise mancherorts zu spüren.
Die Lösung dürfte daher in einer Mischung aus der Förderung der Angebotsseite, so dass mehr Wohnraum geschaffen wird, und der Unterstützung bedürftiger Mieter liegen. Die Städte müssen dringend mehr Bauflächen ausweisen (wie kann es beispielsweise sein, dass mit dem Tempelhofer Feld mitten in Berlin eine 355 Hektar große Fläche nicht einmal zu Teilen bebaut werden darf?) und baurechtliche Hürden verringern, in Metropolzentren muss weiter in die Höhe gebaut und Wohnraum insgesamt verdichtet werden. Es muss natürlich an den richtigen Stellen gebaut werden. Trotz sinkender Bevölkerungszahlen in ländlichen Regionen Familienhäuser zu bauen, dürfte wenig zielführend sein. Über all das, und eine neue Lust am Bauen, gerade auch in Großstädten, muss öffentlich geredet werden. Und darüber, wie Bauen das Wohnproblem lösen kann. Ein Bauboom würde sich mittelfristig auf das städtische Erscheinungsbild auswirken, Baustellen können zum öffentlichen Ärgernis werden. Man sollte daher erwägen, unmittelbar Betroffene entsprechend zu entschädigen. Darüber hinaus muss auch die Infrastruktur derart ausgebaut werden, dass sich die Wege aus den Randgebieten in die Zentren verkürze. Als Unterstützungsmaßnahme für Mieter zu begrüßen ist die zum Jahresbeginn 2020 erfolgte Anhebung des Wohngeldes durch das Wohngeldstärkungsgesetz. Rund 660.000 Haushalte können staatliche Zuschüsse zu ihren Mieten erhalten.
Von diesen Maßnahmen profitieren die Mieterinnen und Mieter und der Wohnungsmarkt insgesamt. Nur wenn wir alle Interessen berücksichtigen, kann das Problem des bezahlbaren Wohnraums gelöst werden. Nachhaltig ist die Lösung dann, wenn die Angebotsseite des Immobilienmarktes gestärkt wird. Dass das klappt, und wie, können wir in diesem Sommer bei den Olympischen Spielen beobachten: Tokyo hat seit umfassenden Baureformen in den 2000ern einen kleinen Bauboom erlebt, die Mietentwicklung seitdem verläuft deutlich positiver als in europäischen Großstädten. Es ist Zeit, dass wir uns in Deutschland selbst dieser Herausforderung olympischer Dimension stellen.
Für den März-Beitrag in der Reihe “Impulse für die Zwanziger” nominieren wir Frau Ina Scharrenbach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Foto: Maximilian König