Angriff auf die liberale Weltordnung: Was für Deutschland nun zu tun ist
Nicht nur die USA fordern die weltpolitische Bühne derzeit heraus. Auch ein revisionistisches Russland sowie ein aufstrebendes China setzen die internationale Ordnung kontinuierlich unter Druck. Andreas Nick über neue Logiken der internationalen Politik.
(Foto: Maximilian König)
Die liberale Weltordnung und ihre nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Institutionen werden zunehmend herausgefordert: Grundsätze multilateraler Zusammenarbeit, Prinzipien des Völkerrechts und die Grundlagen des regelbasierten Welthandelssystems stehen unter Druck, werden missachtet oder gar aufgekündigt. Daraus ergeben sich klare Konsequenzen: Europa muss sein Schicksal stärker selbst in die Hand nehmen, mit größerer Einigkeit und verbesserter Handlungsfähigkeit. Auch Deutschland wird in deutlich höherem Maße als in der Vergangenheit Stabilität und Sicherheit selbst erzeugen und „exportieren“ müssen – und sich Fragen der Geostrategie und Geoökonomie in bisher nicht gekannter Weise stellen müssen.
Herausforderungen für die liberale Ordnung
Die seit 70 Jahren bestehende liberale Ordnung sieht sich heute einer dreifachen Herausforderung gegenüber: einem revisionistischen Russland, einem aufstrebenden China und der Tatsache, dass sich die Vereinigten Staaten von Amerika aus ihrer Rolle als Architekt und Garant der internationalen Ordnung zurückziehen (abdication, wie Richard Haass es nennt).
Die veränderte russische Politik, angekündigt bereits in der Rede von Präsident Putin auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007, wurde mit dem Georgien-Konflikt 2008, der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim 2014 und dem anhaltenden Konflikt in der Ost-Ukraine traurige Realität. Russland hat damit die europäische Friedensordnung der Charta von Paris 1990 verletzt und verfolgt offenbar das Ziel, die eigene Einflusssphäre im sogenannten „post-sowjetischen“ Raum auch in zunehmend aggressiver Weise zu bewahren und auszudehnen.
Während China bis vor wenigen Jahren noch die Doktrin des friedlichen Aufstiegs (peaceful rise) verkündete, verfolgt die chinesische Außen‑, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik nunmehr deutlich bestimmter die Rückkehr des „Reiches der Mitte“. China setzt auch auf geografische Ausdehnung und baut seinen Einfluss im Südchinesischen Meer aus. Außerdem schafft Beijing alternative Institutionen der multilateralen Zusammenarbeit wie etwa die Asiatische Infrastrukturinvestmentbank oder die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit.
Die aktuell einschneidendste Herausforderung ist jedoch der Rückzug der USA aus der Rolle des Garanten der liberalen Ordnung: Im Verständnis der neuen Administration ist die Welt nicht mehr eine „globale Gemeinschaft“, sondern eine Arena, in der Nationen, nichtstaatliche Akteure und Unternehmen um Vorteile konkurrieren. Inzwischen stellen die USA die liberale Ordnung zunehmend aggressiv in Frage gestellt. Ex-CIA Chef General Michael Hayden hat sein Land daher kürzlich sogar als die derzeit „am meisten destabilisierende Kraft der Welt“ bezeichnet.
Einerseits stellt die von der Trump-Administration verfolgte Politik einen elementaren Bruch in der US-Außenpolitik dar – andererseits hat diese Entwicklung nicht erst mit dem aktuellen Präsidenten begonnen und wird wohl auch nicht mit seiner Amtszeit enden.
Vom internationalen Rückzug der USA und dem entstehenden Machtvakuum profitieren besonders Russland und China. In einer G‑Zero-Welt handelt jedes Land für sich selbst. Und durch den Rückzug der USA wird die innere Stabilität Europas wie Asiens gefährdet: Ohne das Gegengewicht der USA als balancer from across the sea ergäbe sich für Russland und China rein geostrategisch dort jeweils eine natürliche Vormachtstellung.
Neben Fragen der Geostrategie gewinnt auch die Geoökonomie herausragende Bedeutung: Macht wird nicht nur militärisch, sondern auch stärker wirtschaftlich projiziert. Differenzen werden zunehmend durch wirtschaftliche Maßnahmen und auch im Cyberraum ausgetragen. Staatliche Infrastrukturfinanzierungen sind zu einem wichtigen Werkzeug der Außen- und Entwicklungspolitik geworden, durch die auch gefährliche neue Abhängigkeiten geschaffen werden können. Hier ist beispielsweise die chinesische Infrastrukturinitiative Neue Seidenstraße (One Belt, One Road) zu nennen, die bislang über 900 Projekte in über 60 Ländern umfasst. Für die traditionell auf Marktwirtschaft setzende liberale Ordnung ist die neue Form von Staatskapitalismus, in der Staatsunternehmen auch unter politisch-strategischen Gesichtspunkten agieren und investieren, eine besondere Herausforderung.
Wirksamer Interessenausgleich wie die Berechenbarkeit internationaler Akteure leidet zunehmend auch darunter, dass die Gestaltungsmächte, aber auch andere Staaten in ihrer Außen‑, Handels‑, und Sicherheitspolitik zunehmend einer jeweils kurzfristigen innenpolitischen Logik folgen. Neue Nationalismen, autoritäre und illiberale Tendenzen greifen auch in Europa um sich. Westliche Demokratien werden zunehmend durch populistische und anti-globalistische Gruppierungen auch von innen infrage gestellt. Im „Wettbewerb der Narrative“ verlieren liberale Narrative und Paradigmen scheinbar zunehmend an Einfluss.
Deutsche Antwort: Transatlantisch bleiben, europäischer werden
Aus den beschriebenen Veränderungen ergeben sich grundlegende Herausforderungen für die deutsche Politik. Denn Deutschland profitiert wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung und der offenen, freien und sicheren Weltordnung, die sie möglich macht. Wie die Studie „Neue Macht, Neue Verantwortung“ von Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) und German Marshall Fund (GMF) schon 2013 feststellte, ist es deshalb das überragende strategische Interesse unseres Landes, diese Ordnung zu bewahren und weiterzuentwickeln.
Wenn die Zeiten vorbei sind, in denen wir uns auf „andere völlig verlassen konnten“, wie Bundeskanzlerin Angela Merkel bereits im Frühjahr 2017 in Trudering feststellte – dann müssen wir als Deutsche und Europäer unser Schicksal stärker selbst in die Hand nehmen. Dabei gilt grundsätzlich, wie es auch im Koalitionsvertrag heißt: Wir wollen transatlantisch bleiben und europäischer werden.
Die deutsche und europäische Strategie im Umgang mit den USA im ersten Jahr der Trump-Administration wurde von Constanze Stelzenmüller (sie leitete die oben erwähnte Studie; Anm. d. Red.) als hugging and hedging beschrieben: Einerseits also der Versuch, in den USA auch bei der neuen Administration intensiv für ein besseres Verständnis europäischer Interessen, gemeinsamer Ziele und die Verteidigung geteilter Prinzipien zu werben, andererseits aber auch Vorsorge zu treffen für den Fall einer möglichen weiteren Entfremdung des bisher wichtigsten Bündnispartners. Die Erfahrungen der letzten Monate im Umgang deuten auf die ebenso unerfreuliche wie unbequeme Erkenntnis hin, dass sich der Schwerpunkt künftig noch stärker auf die zweite Komponente des Hedging wird verlegen müssen.
Nichtsdestotrotz sollten wir auf den tiefgreifenden Wandel in den Beziehungen zu den USA auch mit einer Intensivierung des transatlantischen Dialogs reagieren – und zwar nicht nur mit der Administration, sondern vor allem auch auf der Ebene der Parlamentarier und der Zivilgesellschaft in den Vereinigten Staaten, gerade auch mit Zielgruppen außerhalb der etablierten Zentren an der Ost- und Westküste. Denn trotz der Politik des gegenwärtigen Präsidenten verbinden uns mit den USA gemeinsame Werte und eine Geschichte der Freiheit und Demokratie, die bis zur deutschen Freiheitsbewegung des 19. Jahrhunderts zurückreicht.
Kern einer deutschen Antwort auf die eingangs beschriebenen Herausforderungen muss aber die nachhaltige Verstärkung des europäischen Engagements sein, vor allem in engster Zusammenarbeit mit unseren französischen Partnern. Es ist dabei ein ausgesprochener Glücksfall für Deutschland, gerade zu diesem Zeitpunkt mit Emmanuel Macron einen ebenso gleichgesinnten wie führungsstarken Partner im Elysee-Palast zu wissen.
Zur Entwicklung eigener Initiativen und zur Stärkung der liberalen Weltordnung benötigt Europa mehr strategische Handlungsfähigkeit. Beim Ministertreffen in Meseberg haben sich Kanzlerin Merkel und Präsident Macron auf die Prüfung der Möglichkeiten zur Einsetzung eines EU-Sicherheitsrates und für Mehrheitsentscheidungen im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik ebenso wie auf die Herausbildung einer gemeinsamen strategischen Kultur durch die Europäische Interventionsinitiative geeinigt. Auch haben Merkel und Macron bekräftigt, die Europäische Union werde „den Multilateralismus entschieden verteidigen, reformieren und stärken“. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist Motor und zentrale Achse der europäischen Integration. Nur gemeinsam können Deutschland und Frankreich wichtige Impulse zur Erneuerung der EU und zur Stärkung ihrer Rolle in den internationalen Beziehungen setzen.
Deutschland und seine europäischen Partner sollten zur Stärkung der liberalen Ordnung ihre Partnerschaft und Zusammenarbeit mit gleichgesinnten Mittelmächten wie zum Beispiel Japan, Kanada und Australien, aber auch Indien, Brasilien, Argentinien oder Südkorea und Staaten-Gemeinschaften wie ASEAN, in Südamerika oder Afrika deutlich vertiefen. Ein Netzwerk von Freihandelsabkommen ebenso wie engere Zusammenarbeit im Rahmen der G7, der G20 und der Vereinten Nationen bietet hier zusätzliche strategische Gestaltungsmöglichkeiten. Ab 2019 wird auch das deutsche Engagement bei den Vereinten Nationen noch stärker im Mittelpunkt stehen, denn im Juni 2018 wurde Deutschland mit einem hervorragenden Ergebnis für die Jahre 2019 und 2020 als nicht-ständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt. 2019 werden im Sicherheitsrat fünf Länder, also ein Drittel der Mitglieder, aus Europa stammen: Eine engere Koordinierung und „Europäisierung“ ist daher ein zentrales Ziel, das wir insbesondere gemeinsam mit Frankreich intensiv verfolgen werden. Und natürlich ist ein noch engerer Dialog mit den drei Vetomächten Russland, China und USA unverzichtbar, um durch notwendige Reformen die Legitimation und Effektivität der Vereinten Nationen zu stärken.
Aufgaben für die deutsche Politik
Auch innenpolitisch müssen wir uns mit der Notwendigkeit höherer strategischer Handlungsfähigkeit auseinandersetzen, denn in einer sich verändernden Welt müssen wir deutsche Interessen noch klarer und konkreter definieren. Seit langem existieren Vorschläge zur Weiterentwicklung des Bundessicherheitsrats und die Entwicklung einer langfristigen nationalen Sicherheitsstrategie. Die strategische Vorausschau muss verbessert werden, eine engere Abstimmung und weniger Rivalität zwischen den zuständigen Ressorts wäre notwendig. Auch das Parlament wäre gefordert: Eine jährliche Grundsatzdebatte zur nationalen Sicherheitsstrategie und eine Reform des Parlamentsbeteiligungsgesetzes im Hinblick auf die Anforderungen einer Europäischen Verteidigungsunion wären notwendig.
Gleichzeitig sollten die institutionelle Aufstellung und der Ressortzuschnitt überprüft werden. So könnte ein um die Verantwortung für Außenwirtschaft und Außenhandel aufgewertetes Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung angesichts neuer Herausforderungen der Geoökonomie zum zentralen Ressort für die Koordinierung deutscher Außenwirtschaftspolitik werden. Dies würde auch den Anforderungen zur Umsetzung der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung Rechnung tragen, die richtigerweise in der Mobilisierung privater Investitionen und privaten Kapitals den entscheidenden Hebel für die Erreichung globaler Entwicklungsziele sieht.
Dr. Andreas Nick MdB
ist seit 2013 direkt gewählter Abgeordneter für den Wahlkreis Montabaur in Rheinland-Pfalz. Er ist Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und dort Berichterstatter der CDU/CSU-Fraktion unter anderem für die Beziehungen zur Türkei und zu Lateinamerika sowie zu Fragen der Vereinten Nationen und der Internationalen Ordnung.
(Der Beitrag erschien in der am 13. September 2018 veröffentlichten CIVIS mit Sonde 02–2018.)